Archive for November, 2008

Hautnah.

Saturday, November 29th, 2008

Die Einschläge rücken näher. Terrorismus war ein Phänomen, das sich bisher immer in weiter Ferne abgespielt hat. Terroranschläge und seine Opfer, Blutbäder und verstümmelte Leichen waren etwas, was man aus dem Fernsehen kannte: Solche finsteren Ereignisse fanden in Kriegsgebieten statt, im Kosovo, in Afghanistan, im Irak, meinetwegen noch in Pakistan. Ganz schlimm war 9/11 – der Vorbote eines neuen Zeitalters der Gewalt gegen arglose Menschen, unkontrollierte, bestialische Gewalt gegen Zivilisation, Freiheit und eine demokratische Grundordnung. Aber auch das war weit weg, denn ich war in Europa und nicht in N.Y.

Das ist jetzt anders. Für mich jedenfalls, seit wir in Indien leben. Nun passieren diese Dinge um die Ecke – mit dem nahesten Angriff jetzt in Mumbai, gerade einmal 170 Kilometer entfernt. Das ist in etwa die Entfernung zwischen Hannover und Hamburg oder München und Nürnberg. Ein Katzensprung.

Terror in Mumbai (Update)

Thursday, November 27th, 2008

Kranke Realität: Keine zwei Monate ist es her, dass wir uns hier über Terroranschläge ausgetauscht haben und ich meiner Befürchtung Ausdruck verliehen habe, dass es wieder geschehen wird, in Pune oder auch Mumbai.

Letzte Nacht war es soweit: In Mumbai stürmten mit Maschinengewehren und Granaten bewehrte Terroristen wild um sich schießend nacheinander mindestens sieben Ziele in Colaba, darunter die Ikone Mumbais am Gateway of India, das Taj Hotel, das Oberoi, den Hauptbahnhof, Cafés (unter anderem das Leopold, ebenfalls eine Ikone Mumbais, in dem ich schon viele Abende verbracht habe) und Krankenhäuser. Bisher wurden laut BBC News mindestens 101 Menschen erschossen und 287 verletzt. Weitere 100 bis 200 Menschen vermutet man noch in der Hand von Geiselnehmern, die das Taj und das Oberoi in ihrer Gewalt haben (Quelle: Spiegel.de). Jetzt stürmen Armee-Scharfschützen die Gebäude um die Geiseln zu befreien. Ausgang ungewiss.

Harte Bandagen

Monday, November 24th, 2008

Vier Jahre lang hatte Shanti Terror: Terror bei Ankush, ihrem Arbeitgeber, bei dem sie sieben Tage in der Woche, sechs bis sieben Stunden täglich die Böden fegte und wischte, entstaubte, Wäsche wusch, bügelte, Frühstück für den hohen Herren bereitete und Füße massierte. Vier Jahre lang nonstop Dienst bei einem reichen Inder, also 1460 Tage oder 8760 Stunden bücken, putzen, katzbuckeln, sich ducken, um nicht angeschrien zu werden, getreten oder geschlagen, denn auch das kam vor, wenn der hohe Herr schlechte Laune hatte, oder getrunken hatte. Vielleicht passierte auch noch Schlimmeres, aber darüber würde Shanti nicht sprechen, dazu ist sie eine zu feine Seele.

1460 Tage drangsalierte Demütigung für 1200 Rupien pro Monat.

Irgendwann, vor einigen Monaten, als Wondana bei mir aufhörte und ich mich bei Somar, ihrem Mann und meinem guten-Freund-und-Frauenversteher erkundigte, ob Shanti nicht Lust hätte, für mich zu arbeiten, wagte Shanti dann das erste Mal aufzubegehren, gedanklich zumindest, denn Ankush, so viel war klar, würde Shanti nicht freiwillig gehen lassen.

Von Wellen und Weisen

Saturday, November 22nd, 2008

Heute morgen bin ich mit einem fetten Kloß im Magen aufgewacht: Bilder von Knödel hämmern durch meinen Kopf, Knödel, wie sie rund und entspannt auf dem nackten Betonboden der Baustelle liegt, ganz Flauschball, ganz Fellknäuel, von den widrigen Umständen unbeeindruckt, wie sie ihre ersten wackligen Schritte wagt, ihre kleinen O-Beine kaum in der Lage, ihr dickes Welpen-Bäuchlein zu tragen, und dann – whamm! – Knödel laut schreiend vor Schmerz, den Kopf in den Nacken überstreckt, die Schnauze zum Schrei geöffnet, auf der Seite liegend, Beinchen in krampfartigen Zuckungen rasend, ins Leere greifend. So stirbt sie, viele Stunden lang.

Grauenvoll.

Ich greife nach U.`s Hand und frage ihn, wie es sein kann, dass ein so unschuldiges Wesen wie ein kleiner Hund so leiden muss. Warum? Wie soll man nicht verzweifeln, auf dieser Welt, an dieser Welt, die so grausam sein kann?

Sometimes I need to think

Friday, November 21st, 2008

Nein, ich bin nicht krank und ich habe auch keine Schreibblockade. Danke, dass sich Viele bei mir danach erkundigt haben, ob alles o.k. ist. Es ist, und es ist nicht: Ich denke nach, wie es hier in Indien für mich weitergehen soll: Ich möchte gern etwas mit und aus meiner Zeit hier machen. Möglichst etwas, das ich für wesentlich halte, keine Beschäftigungstherapie.

Ich habe jetzt tolle Leute um mich, die sich freuen, für uns zu arbeiten und denen ich vertraue. Das allein wäre die letzte Woche Stoff zum Schreiben gewesen – wie es uns gelang, zwei Menschen aus sklavenähnlichen Abhängigkeitsverhältnissen mit ihren indischen Arbeitgebern herauszulösen und ihnen zumindest für die nächsten drei Jahre eine auch monetär anständige Perspektive zu geben. Nachdem Shanti jetzt -nomen est omen – den ihr innewohnenden Frieden und ihr Lachen in unsere Wohnung gebracht hat, und sich um Haus und Hof kümmert, Shabundin aus seiner Zuhälteragentur befreit ist und uns glücklich durch Pune fährt und Jothiba sich um den Garten kümmert, entsteht Raum für neue Aufgaben. Und dadurch entstehen neue Fragen: Wie kann ich, wie will ich meine Zeit hier in Indien sinnvoll verbringen?

South Park Street Cemetery, Calcutta

Monday, November 10th, 2008

Ich mag Friedhöfe, vielleicht, weil sie mich an die Vergänglichkeit allen Seins und die Vergeblichkeit unserer Bemühungen erinnern, die Zeit aufzuhalten. An die Vergeblichkeit unserer Bemühungen überhaupt. Der Tod und seine Symbole sind großartige Lehrer: Angesichts des Todes – und wir alle haben diese Krankheit namens Sterblichkeit – bekommen viele Dinge unseres Lebens eine andere Wertigkeit. Das Leben an sich bekommt ein anderes Gewicht, und zwar nicht die Werte, die in unserer Gesellschaft als erstrebenswert gelten, wie Ansehen oder Ruhm, Respekt, Ehre, Achtung, Autorität, Geld und all diese flüchtigen Attribute, sondern Stimmigkeit, Authentizität, von mir aus: Frieden mit sich selbst, im Reinen sein. Und diesen Frieden erlebt man, erlebe ich, bei ganz anderen Dingen, als bei denen, die gesellschaftlich anerkannt sind.