South Park Street Cemetery, Calcutta

Ich mag Friedhöfe, vielleicht, weil sie mich an die Vergänglichkeit allen Seins und die Vergeblichkeit unserer Bemühungen erinnern, die Zeit aufzuhalten. An die Vergeblichkeit unserer Bemühungen überhaupt. Der Tod und seine Symbole sind großartige Lehrer: Angesichts des Todes – und wir alle haben diese Krankheit namens Sterblichkeit – bekommen viele Dinge unseres Lebens eine andere Wertigkeit. Das Leben an sich bekommt ein anderes Gewicht, und zwar nicht die Werte, die in unserer Gesellschaft als erstrebenswert gelten, wie Ansehen oder Ruhm, Respekt, Ehre, Achtung, Autorität, Geld und all diese flüchtigen Attribute, sondern Stimmigkeit, Authentizität, von mir aus: Frieden mit sich selbst, im Reinen sein. Und diesen Frieden erlebt man, erlebe ich, bei ganz anderen Dingen, als bei denen, die gesellschaftlich anerkannt sind.

Vielleicht ist das eines der großen Geheimnisse des Todes oder der Konfrontation mit ihm: Dass das, was wir gelernt haben, nämlich uns selbst durch die vermeintliche Brille anderer wahrzunehmen, und uns durch sie zu beurteilen, von uns abfällt und wir anfangen, uns zu prüfen, ob das, was wir tun, für UNS richtig ist, unserer Wahrnehmung eines zufriedenen Lebens entspricht – beide Versionen können nämlich völlig unterschiedlich aussehen.

Außerdem vermitteln Friedhöfe, wie der Name schon sagt, Frieden, für mich jedenfalls. In ein paar Jahren werde ich, oder das, was ich dafür gehalten habe, da unten liegen, und wenn ich auf einem Friedhof die Gräber betrachte, denke ich an all die Träume und Hoffnungen, derer, die dort vor mir liegen, in der kalten oder warmen Erde, je nachdem, und ich weiß, sie haben wie ich geträumt, geliebt, gehofft, wahrscheinlich auch gehasst, verachtet, und waren verzweifelt, wie ich. Und ich entwickle Mitgefühl, mit allen, und das sind unendlich viele, die vor mir gestorben sind, und mit mir, denn ich werde den gleichen Weg gehen, werde ihn gehen müssen. Es ist nichts Neues, aber: Alles, wirklich alles, hier ist nur geliehen, sogar meine Persönlichkeit, und das mache ich mir klar, wenn ich am Grab von, sagen wir mal, Priscilla Forbes stehe, gestorben 1808 in Kalkutta, oder Mrs. Sarah Cecilia Duncan, gestorben hier in Indien, ebenfalls Kalkutta, 1809, gerade mal 46 Jahre alt.

Wenn es nach mir ginge, müssten wir alle unter der Prämisse und in dem Bewusstsein erzogen werden, WIE sterblich wir sind, und, im Gegenzug, wie kostbar jeder Augenblick ist, den wir hier erleben. Ich wette, wir würden uns anders verhalten, in vielen, ganz vielen Situationen. Aber das wird uns in unserem Kulturkreis nicht beigebracht – wir ziehen es vor, den Tod als Lebensperspektive auszusparen, zu tabuisieren. Das ist schade, bietet die Realisierung unserer Sterblichkeit doch so viele Chancen: Woran wirst Du Dich erinnern, wenn Du weißt, dass Du eine tödliche Krankheit hast? Was wirst Du tun?

Dies sind die Dinge, die, sicher für jeden verschieden, jeder für sich leben sollte, und zwar bewusst – die tödliche Krankheit haben wir schon.

Wie dem auch sei, ich war, natürlich, auch in Kalkutta, auf einem Friedhof: Dem South Park Street Cemetery, der, ehemals als ‘neuer‘ Friedhof von den Engländern 1767 auf einem Sumpfgelände in einem Außenbezirk von Kalkutta angelegt, heute selbst im Tod die Eleganz, den Sinn für Ästhetik und den Reichtum der ehemaligen kolonialen Besatzer zeigt und der heute in einem Zustand, sagen wir mal, kontrollierter Verwahrlosung ist, also wunderschön. Er erinnert mich an den Pariser Père Lachaise, wo ich eine besondere Begegnung hatte. Aber das ist eine andere Geschichte.

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2 Responses to “South Park Street Cemetery, Calcutta”

  1. Andreas says:

    Jules,
    ich weiß nicht wie gesund Du bist. Wahrscheinlich doch jung und gesund. Du schreibst vom Sterben – oder von den dahin führenden Krankheiten – eine theoretische Abhandlung. Ja, wir sind krank und unser Körper baut ab, wahrscheinlich ab Mitte der 30er. Ab etwa 50 kommen die Zipperlein vermehrt und wir merken das Altern des Körpers immer mehr. Aber es ist schon ein Unterschied gegenüber dem anderen Fall, vom Arzt gesagt zu bekommen, dass man z.B. Knochenkrebs hat. Das ist nicht nur eine Information, das bedeutet auch Schmerzen, Untersuchungen, Operationen etc., das Unwohlsein verstärkt sich dadurch und der Lebenswille nimmt ab. Es ist also eine nicht vergleichbare Information, zu wissen dass du einmal sterben musst und zu wissen dass du eine wirklich aktuell unheilbare Krankheit hast. So wie Du zu philosophieren ist halt ein wehmütiges Betrachten einer (hoffentlich) fernen Zukunft, ….wenn man einmal auch da liegen wird (und der stillen Hoffnung, das es doch bitte schnell und schmerzlos gehen möge, bitte lieber Gott!)… Und dann geht man wieder zum Tagesgeschäft über.
    Ich gehe jeden Tag über den Friedhof, tags und nachts, wenn ich halt vom Geschäft komme oder dorthin gehe. Die Toten rücken jeden Tag näher für mich, die Einschläge kommen näher, wie man so sagt: immer mehr Bekannte versammeln sich an diesem Ort, unter der Erde.
    Aber ich lasse mich normalerweise davon nicht berühren, hab meine Musik im Ohr und die Hand am Pfefferspray, falls mal jemand anders als ein Toter mich meiner Habe oder meines Lebens zu berauben beabsichtigt.
    Alte Friedhöfe sind oft schön, Du hast da einige schöne Bilder dabei, der Friedhof ist praktisch ein Park der Erinnerungen. Aber sich wirklich erinnern kann man auf einem fremden Friedhof nicht. Erinnern heißt, vergangene Erlebnisse, die in einem sind, die im eigenen Gehirn sind, abzurufen. Das geht so bei den eigenen Verwandten, die dort liegen oder auch den Geschäftsleuten (Fabrikant soundso, Metzgermeister soundso…) des eigenen kleinen Ortes. Aber kaum in einem fremden Friedhof.
    Der ist einfach nur schön, weil er schön kontrolliert verwahrlost ist. Weil dort Ruhe herrscht (wenn nicht gerade jemand mit einem Bagger ein neues Grab aushebt, nebenan der Steinmetz mit lautem Gekreisch neue Grabsteine bearbeitet oder ein anderer mit einem dröhnenden Laubgebläse den Verfall beseitigt, sauber macht).
    Aber herrscht dort wirklich Ruhe, wenn mal Ruhe herrscht? Ist unsere westliche Art der Bestattung die richtige, die die Seele entbindet von ihrem Körper, die sie frei macht für weitere Inkarnationen oder irgendwann mal für das Zurückkehren in Brahma?
    Ich hab ein besseres Gefühl dabei, wenn mit hohem Energiegehalt bei der Verbrennung die Seele verabschiedet wird, ihr klar gemacht wird, dies war dein Körper, verlass jetzt diese Sphäre – als dass mit der niederen Energie der schleichenden Verwesung in einem Kasten irdische Bindungen lange aufrechterhalten werden (bleibt ein Teil der Seel im Toten und geht auf die Maden über?).
    Wer weiß was wirklich geschieht mit den Toten, den Seelen.
    Keine schöne Vorstellung eines halbverwesten Körpers, wo die Käfer und Würmer dran nagen; wo Verwesungsbrühe ins Erdreich sickert und die aufsteigenden Gase nachts kleine Elmsfeuerchen bilden, wenn bei Gewitter die Atmosphäre statisch aufgeladen ist – geh dann mal über den Friedhof!).
    Die Hindus geben die Asche in den Fluss, das ist ein schönes Bild, in Erinnerung zu behalten, wie sich die Asche im Wind oder der Strömung verteilt, eine Loslösung vom Irdischen, eine Erlösung des gestorbenen Menschen. Freiheit, Erlösung!#

    Gruß
    Andreas

  2. jules says:

    Hallo Andreas,

    es ging mir bei dem, was ich geschrieben habe auch nicht so sehr um die Art der Bestattung, als vielmehr um ein paar grundsätzliche Gedanken zum Thema Sterblichkeit. Und wie das Bewusstsein der eigenen Sterblichkeit vielleicht unser LEBEN verändern könnte, wenn wir diese Realisierung zulassen würden.

    Wie man seine sterblichen Überreste verwaltet wissen möchte, ist eine sehr persönliche Entscheidung. Ich wollte meinen Beitrag auch nicht als Friedhofs-Promo verstanden wissen. Sie sind nur gute Orte, um sich an die eigene Sterblichkeit und die Vergänglichkeit zu erinnern.

    Gruß zurück!