Hautnah.

Die Einschläge rücken näher. Terrorismus war ein Phänomen, das sich bisher immer in weiter Ferne abgespielt hat. Terroranschläge und seine Opfer, Blutbäder und verstümmelte Leichen waren etwas, was man aus dem Fernsehen kannte: Solche finsteren Ereignisse fanden in Kriegsgebieten statt, im Kosovo, in Afghanistan, im Irak, meinetwegen noch in Pakistan. Ganz schlimm war 9/11 – der Vorbote eines neuen Zeitalters der Gewalt gegen arglose Menschen, unkontrollierte, bestialische Gewalt gegen Zivilisation, Freiheit und eine demokratische Grundordnung. Aber auch das war weit weg, denn ich war in Europa und nicht in N.Y.

Das ist jetzt anders. Für mich jedenfalls, seit wir in Indien leben. Nun passieren diese Dinge um die Ecke – mit dem nahesten Angriff jetzt in Mumbai, gerade einmal 170 Kilometer entfernt. Das ist in etwa die Entfernung zwischen Hannover und Hamburg oder München und Nürnberg. Ein Katzensprung.

Ich möchte nicht, dass Somosa.de zu einer traurigen Seite wird – Ich möchte gern über positive Dinge schreiben, über die vielen tausend vor allem kleinen Dinge, die mir jeden Tag Freude bereiten und die ich gern weitergebe. Ich sehne mich nach meiner Jugendwelt: Klar, da gab es die RAF und auch die Fluzeugentführung in Mogadishu, aber die Attentate der RAF, so schlimm und grausam wie sie waren, richteten sich gegen einzelne Personen des Establishments und Mogadishu: ebenfalls weit weg. Außerdem waren es einzelne Vorkommnisse, kein generelles Phänomen. Hier und heute kann man anfangen, einen Terrorkalender zu führen, so sehr häufen sich die Anschläge.

Ich habe keine Lust auf pathetisches Betroffenheits-Gejammer. Dennoch kann ich nicht anders, als meine Trauer, meine Betroffenheit und mein Mitgefühl auszudrücken angesichts des unermesslichen Leids, das die Attentate seit Mittwoch Nacht in Mumbai verursacht haben.

Ich fühle mit den Menschen, die als Gefangene der Geiselnehmer im Taj oder im Oberoi oder in dem jüdischen Gebäude am Nariman Point ihre letzten Stündlein gezählt haben, in der Hoffnung, befreit zu werden. Ich fühle mit den Angehörigen, derjenigen, die es nicht geschafft haben: Die tapferen Hotelangestellten, die sich geweigert haben, im Taj Brände zu legen und deren Zivilcourage mit Kopfschüssen vergolten wurde; ich fühle mit den Angehörigen von Sanyogita und Jasmine, den beiden Rezeptionistinnen, die sich ebenfalls weigerten, den Terroristen zu helfen und deren Leben durch einen Kugelhagel vernichtet wurde; ich fühle mit unserem Bäcker, der einen seiner besten Freunde, einen Koch im Taj, verlor, weil dieser gerade Dienstschluss hatte und bei Verlassen des Gebäudes erschossen wurde. 25 Jahre alt.

Ich fühle mich schlecht. Andere Expats hier gehen schon seit Tagen wieder auf Konzerte und besuchen Partys. Das ist in Ordnung und sicher sehr lebensbejahend. Ich kann das nicht. Und ich frage mich, was der Terror unserer Zeit mit uns machen wird: Nicht physisch, eher psychisch. Ich habe keine Angst davor, jetzt paranoid zu werden und in jedem herumliegenden Päckchen eine Bombe zu sehen oder in jedem Knallkörper einen Schuss zu vermuten, das nicht.

Für mich geht vielmehr etwas anderes verloren, nicht weniger wichtig: Die Unschuld. Das unschuldige Glück, auf Reisen zu sein, andere Länder zu entdecken, fremden Menschen zu vertrauen und mich vertrauensvoll jeder neuen Situation zu überlassen. Das Grundvertrauen eben, dass Menschen in Ordnung sind und die Welt kein schlechter Ort. Wir werden gerade eines Besseren belehrt.

U. ist immer noch nicht zurück. Er durfte bisher nicht einreisen, Company Policy. Wenn ich Glück habe, landet er heute Abend in Bangalore und ist dann morgen früh in Pune.

Im übrigen war die Taxibombe, die auf dem Western Express Way in Vile Parle explodierte, für den Flughafen bestimmt – das Taxi raste mit über einhundert Sachen in Richtung Flughafen, als die Bombe hochging. Wir haben Glück gehabt, dass es nicht ankam. U. war nämlich dort.

Tags: , , , ,

4 Responses to “Hautnah.”

  1. sarangiji says:

    Hallo Jules,
    Du schreibst, Du hast Deine unschuldige Sicht der Welt verloren. Das ist ein Teil des Reifeprozesses. Unschuldig sind nur die Kinder. Sie glauben an die Mutti und kennen das Böse der Welt nicht. Durch die Einschläge, die immer näher kommen wirst du gestählt, wenn du ihnen richtig begegnest, sie richtig aufnimmst: was dich nicht umbringt macht dich stark. Jetzt wirst Du die Nachrichten im TV auf eine andere Art und Weise sehen. Menschliche Schicksale in Deiner nächsten Umgebung treffen Dich stärker als die von Knödel, weil sie Dein eigenes Leben direkter betreffen. Du kannst Dich selbst recht gut davor schützen, in eine Baugrube zu fallen. Aber nicht gegen den Terrorismus… So verstehe ich Deine Formulierung mit den Einschlägen. Die Ereignisse werden noch näher kommen. Krankheiten, evtl. die eigenen oder naher Angehörigen und Tod Deiner Nächsten, einfach weil Du oder sie ihr Maß erreicht haben und in eine andere Realität wechseln. Das ist der Vorteil des Alters: man wird vorbereitet. Man kann eher akzeptieren.

    Ganz anders ist es, wenn man unvorbereitet vom Ärgsten getroffen wird, wie es jetzt wieder über 160 Menschen geschah. Es heißt, dass diese Seelen noch lange im Limbo schweben und sich erst langsam mit der Realität ihres Todes abfinden lernen müssen. Von daher auch die Spuk- und Potergeistergeschichten.
    Die Einschläge kommen näher, aber es ist sinnlos davonzurennen. Es ist auch nicht sinnvoll sich zu verhärten, einen Wall aufzubauen gegen die grausame Welt. Man muss akzeptieren.
    Die Unschuld ist verloren, dabei soll jedoch die Weisheit wachsen.

    Ich klinge meistens sehr altklug in meinen Beiträgen und Kommentaren; das ist jedoch meine Lebenserfahrung. Ich habe schon so einiges erlebt, nicht immer war mir das Schicksal günstig, aber insgesamt klage ich nicht. So so viele in der Welt sind viel viel schlimmer dran als ich. Ich vertraue den höheren Energien, ich bedauere diejenigen, die meinen, sie fallen in die Grube und sind dann nur noch Kompost. Was haben sie dann von ihrem Leben, aus dieser Sicht wäre es gleichgültig ein Jahr früher oder später zu sterben. Danach bleibt ja sowieso nichts, keine Erinnerung, keine Veränderung, alles Zufall, alles sinnlos. Ein Teufelskreis, der darin enden kann, auch das Leben der anderen für sinnlos zu halten. Kommen daher die Amokläufer, die andere in ihren Tod reißen? Alles sinnlos darf nicht bedeuten, die Moral zu vergessen, zu beachten, dass andere leben wollen und die Welt anders sehen.
    Akzeptiere die Einschläge und führe Dein Leben weiter, vielleicht ein wenig misstrauischer, ein wenig vorsichtiger. Wir müssen akzeptieren, dass das Reisen, dass unsere Art zu leben schwieriger wird.

    Ich hoffe U. ist inzwischen wieder in Deinen Armen.
    Apko dono bahut khushi ho.
    Andreas

  2. Daniela says:

    Hallo Jules,

    wovor wir mehr Angst haben sollten als der Angst, ist das Vergessen. Das hat bisher in Indien immer kurz nach den Anschlaegen schon wieder eingesetzt. In Mumbai gibt es ja den perversen Mythos des “spirit of Mumbai”, der Freischein fuer Politiker, denn das Leben geht weiter. Einfach so. Und im Strudel aus Benzinpreisen, Telefonrechnungen, Mitgift und der Maid, die nicht richtig sauber macht, vergisst man schnell. Und vermutlich ist man dafuer auch noch dankbar.
    Ich kann nur hoffen, dass die Gefuehle der Wut und Frustration, die Mumbais Buerger bisher beseelt haben, eine Weile anhalten. Lang genug, um das Establishment ueber den Haufen zu werfen. Lang genug, um sich nicht mit abgeschmackten Erklaerungen zufrieden zu geben.
    Es gibt so viele Ungereimtheiten. Zum Beispiel glaube ich nicht, dass Karkare und die anderen beiden Polizisten von einem einzigen Terroristen erschossen worden sein sollen. Einfach so. Von einer Person, die durch schusssichere Westen schiesst, selbst mit dem Leben davon kommt und mal ebenso drei Top Polizisten (alle drei ein Dorn im Auge der Politiker) ermordet – davon kann doch kein Mensch ausgehen. Es gab bereits Mordrohungen gegen Karkare, weil er die Anschlaege in Malegoan untersucht hat, und Politiker wie Modi haben ihn noch vor wenigen Tagen einen Verraeter genannt. Heute bieten sie seiner Familie 1crore Rupien hat. Schon klar, was da abgeht. Klassische Hinrichtung im Mumbaistil, aber niemand stellt Fragen. Ich hoffe, wenn sowohl der israelische als auch der amerikanische Sicherheitsdienst seine Nase in die Untersuchungen steckt, werden diese unsinnigen Dinge aufgedeckt und es werden Fragen gestellt und beantwortet.

    LG
    Daniela

  3. sarangiji says:

    Hallo Daniela,
    Ich wundere mich immer wieder, woher alle Welt ihre Kenntnise haben. Jetzt ist die Sache gerade 2 Tage über die Bühne und alle meinen sie wüßten die Ungereimtheiten. Woher weißt Du um die schussicheren Westen, warst Du dabei als die Schüsse fielen? Glaubst Du voreiligen Berichterstattern, die Dich irgendwas glauben machen wollen? Fällst Du nicht hier in eine Falle? Erst die Untersuchungen abwarten, dann weiterdenken. Zur Zeit jagt ein Erklärungsversuch den anderen, es werden wilde Verschwörungen spekuliert und Aussagen geglaubt von Unbekannten.
    Warum das Establishment angreifen? Vielleicht will gerade jemand diese Deine Reaktion.
    Ich sage Vorsicht – abwarten.
    Laß die fremden Geheimdienste arbeiten – wenn sie die Erlaubnis bekommen.
    Wenn nicht, dann bleibt ja immer noch die Hoffnung, dass die Indischen Behörden die Aufklärung auch alleine schaffen.

    “….um das Establishment ueber den Haufen zu werfen”
    Ist die Sache denn so schlimm, dass Du keiner indischen Behörde mehr vertraust?
    Hälst Du die Unterwanderung und Korruption für so schlimm, dass das ganze System wie eine faulende Wunde rausgeschnitten werden muss?
    Selten kam etwas Besseres nach. Rasche Veränderungen sind Mord. Die Dinge müssen sich langsam korrigieren.

    LG
    Andreas

  4. Daniela says:

    Hallo Andreas,

    die schusssicherein Weste hat Karkare vor laufender Kamera angezogen, danach probierte er verschiedene Helme aus, bevor er sich auf den Weg machte. Soll ich glauben, dass er die Weste spaeter wieder auszog? Einige sagen ja, er haette genau das getan, die die in Indien standardisierten schusssicheren Westen zu lang sind, um sich damit bequem setzen zu koennen, aber ich wuerde einem hochrangigen Polizisten keine solche Fahrlaessigkeit unterstellen wollen.

    “Ist die Sache denn so schlimm, dass Du keiner indischen Behörde mehr vertraust?
    Hälst Du die Unterwanderung und Korruption für so schlimm, dass das ganze System wie eine faulende Wunde rausgeschnitten werden muss?”

    Zweifellos. Und nicht nur ich. Die letzten CBI-untersuchungen waren katastrophal. Ich moechte nur an den komplett vermurksten Mordfall in Noida erinnern (junges Maedchen und Hausdiener ermordet, bis heute kein Moerder gefunden).
    Zudem muss jeder, der z.B. die Berichte in Tehelka liest, ueber die Korruption bescheid wissen. Dein sprachliches Bild passt wie die Faust aufs Auge. Da werden Beweise fabriziert, versteckt, kommen abhanden, Zeugen werden erpresst, bedroht, bestochen etc.
    Zudem ist die Stimmung im Land zur Zeit zwar friedlich, aber die MEnschen sind wirklich wuetend. Solch eine Show hat es noch nie gegeben. Vielleicht bewegt sich etwas? Man hat die Nase voll von Politikern, die mal kurz den Verbliebenen der Gestorbenen vor laufender Kamera gratulieren. Es geht zu wie bei Kessel Buntes, und ich finde das gut. ES kann ja gar nicht schlimmer werden.

    LG
    Daniela