Survival of the fittest? Indische Grausamkeit, hautnah.

Es ist eine Sache, von Gräueltaten in der Zeitung zu lesen. Das kann man hier täglich und nicht nur auf Bildzeitungs-Niveau. Angesichts der prekären sozialen Verhältnisse (laut einer Statistik der Weltbank leben 44 Prozent der indischen Bevölkerung von weniger als einem US-Dollar am Tag. Ausrufezeichen.) wundert es mich täglich, dass es verschwindend wenig wirtschaftlich motivierte Gewaltkriminalität gibt.

Dennoch tropft aus indischen Zeitungen das Blut, wie hier bereits 2008 beschrieben. Dabei handelt es sich vielfach nicht um Gewaltakte aus wirtschaftlichen Gründen, sondern um persönlich motivierte Totschlag-Szenerien oder Morde. Morde, die im Namen der “Ehre” verübt werden, wegen Familienzwistigkeiten, aus Eifersucht, Morde sogar aus religiösen Gründen. Indien ist ein sehr emotionales Land.

Wie gesagt: Es ist eine Sache, über “Incredible India” zu lesen, wie sich das Werbemotto des indischen Tourismusverbands ironischerweise nennt, eine andere, die Schattenseiten einer hilfslosen und von Doppelmoral geprägten Gesellschaft im nächsten Umfeld mitzubekommen:

Ich war heute zu Besuch bei einem Freund, nennen wir ihn widerum X. X arbeitet seit zwei Jahren im Land und hat, neben seiner indisch-deutschen Abstammung, Familie in der Stadt. Daneben beschäftigt X einen Fahrer, der sich feinerweise sozial engagiert, und ehrenamtlich in einem Puner Waisenhaus arbeitet. Und, was soll ich sagen? Neulich fand der Fahrer von X ein neugeborenes Kind in der großen Mülltonne im Hinterhof vom Waisenhaus.

Meine erste Frage an X war: “Und, war es ein Mädchen?”

X bejahte dies mit vehementem Nicken: “Natürlich! Blöde Frage.”

X hatte Recht. Und berichtete weiter, wie sie das kleine Mädchen nach medizinischer Versorgung schließlich an ein Adoptionsheim in Mumbai vermittelt hätten. Die Kleine ist in (verhältnissmäßiger) Sicherheit.

Was wir beide jedoch nicht begreifen konnten, war, dass der Säugling in DIE MÜLLTONNE des Horts entsorgt worden war, wo ihn mit ein bisschen Pech keiner mehr lebend gefunden hätte. Wie lange kann ein neugeborener Säugling bei mehr als 40 Grad Tagestemperatur ohne Wasser (von Milch ganz zu schweigen) in einer mit Unrat angefüllten Blechkiste überleben? Es hätte tausend andere (klassische) Möglichkeiten gegeben, die Stufe zum Eingang meinetwegen, das Tor mit Wächtern, was weiss ich. Aber der Müllcontainer? Was ist ein Mädchenleben wert in Indien? Wie groß muss der Druck auf die Mutter sein, damit sie einem solchen Verfahren zustimmt? Warum entschließen sich Familien zu einem solchen, unnachvollziehbar unmenschlichen und mörderischen Schritt?

Dann berichtete X noch von der gängigen Praxis, ungeliebte Säuglinge (natürlich vor allem Mädchen) vom Personal umbringen zu lassen. “Unangenehme” Jobs erledigt das Personal. Der Mörder ist immer der Fahrer? Erinnert stark an den “White Tiger” von Aravind Adiga. Nur das dies hier keine Fiktion ist, sondern, in diesem Fall, Puner Realität.

Hat in diesem Fall nicht geklappt, vielleicht war der Fahrer ein zu großes Weichei. Zum Glück für das Mädchen. Viele kommen nicht davon, sondern landen als Ein-Tages-Meldungen in den Schlagzeilen. Warum nur, warum?

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3 Responses to “Survival of the fittest? Indische Grausamkeit, hautnah.”

  1. Annibody says:

    Hi Julia,

    solche Geschichten machen einfach nur sprachlos. Gibts es Babyklappen in Pune. Kann man eigentlich am Anfang der Schwangerschaft legal abtreiben? Schoen, dass das Maedchen ueberlebt hat, aber wie grausam ist es, wenn es spaeter mal herausbekommt, dass seine Eltern es in eine Muelltonne geschmissen haben.

    Mein Mann hat mir einmal einen Zeitungsartikel gezeigt, in dem eine Frau, die abegtrieben hatte, ihre Sitution schilderte. Die Frau lebte mit Mann und 2 Toechtern seit Jahren in England(!)und als sie erneut schwanger wurde und herauskam, dass sie wieder ein Maedchen erwartete, hat sie sich auf Druck der Elternzu einer Abtreibung ueberreden lassen. Ein drittes Maedchen koennten sie sich nicht leisten, hiess es. Sie hat in dem Artikel ueber ihr Leid und ihren Kummer geschrieben. Es klang schon so, dass ihr der Schritt wirklich schwer gefallen ist und sie oft ihr kleines Baby vermisst. Sie schrieb am Ende aber, dass sie versucht erneut schwanger zu werden und dass sie wahrscheinlich wieder abtreiben wird, wenn es wieder ein Maedchen wuerde. Es klang so, als ob sie es solange versuchen wuerden, bis der ersehnte maennliche Nachkomme kommt. Nach der Lektuere konnte ich nur den Kopf schuetteln. Das ist doch voellig verruekct und menschenverachtend. Ich weiss ja nicht, wieviele “Versuche” die Familie verkraften kann. Denke aber das eine Abtreibung, vorallem aus so einem Grund schon traumatisierend genug ist. Gluecklich ist diese Familie ob mit oder ohne Sohn bestimmt nicht geworden.

    LG, Annibody

  2. jules says:

    hallo annibody!

    Da geht es Dir so wie mir: Ich kann mich ziemlich darüber aufregen und frage mich dann immer, so gut es mir hier persönlich geht, in was für einem Land ich hier eigentlich lebe. Ansonsten scheint es ja nicht viele Leser aufzuregen, was mich wundert.

    Ich glaube nicht, dass es außer den Waisenhäusern offizielle Babyklappen in Pune gibt. Und legale Abtreibung? Nicht, dass ich wüsste. Auf jeden Fall ist hier die Geschlechterbestimmung per Ultraschall während der Schwangerschaft aus genau diesem Grund verboten. Weil Einige sonst aus diesem Grund abtreiben würden. Aber wo ein Wille ist, ist auch ein Weg: Wie kann man Frauenärzte entsprechend kontrollieren? Ich weiß jedenfalls von Fällen, in denen Frauenärzte gegen entsprechende Bargeldzahlungen unter der Hand die Eltern informiert haben. Und was dann passiert? Man kann es vermuten.
    Nachtrag: Abtreibungen wurden 1971 legalisiert – aber natürlich nicht die geschlechterspezifische.

    Schönes Beispiel, das Du bringst und ich vermute ebenfalls, dass daraus keine glücklichen Familien entstehen. Mein Gewissen wäre jedenfalls arg belastet, wenn ich ein ansonsten gesundes Mädchen abtreiben müsste, nur weil es nicht das richtige Geschlecht hat.

    LG zurück!
    Julia

  3. Daniela says:

    Pfui!

    Ich bezweifle, dass das Mädchen überleben sollte. Es musste halt nur “weg”. So weit ich informiert bin, gibt es in Indien ein Äquivalent zur Babyklappe. Irgendein Cradle Scheme. Aber wie es dabei mit der Umsetzung aussieht? Keine Ahnung.

    Es ist – verrückterweise – für mich ganz einfach zu verstehen, wie die das machen. Wohin man guckt, werden Mädchen und Frauen diskriminiert. Das geht doch schon los, dass Schwestern ihre Brüder und Frauen ihre Ehemänner nicht mit dem Vornamen anreden, umgedreht aber wohl. Dann werden Mädchen (auch unsere Tochter) von Fremden als auch von Verwandten grundsätzlich in der männlichen Form angesprochen. Aus “Respekt”. Man muss also den fehlenden Pimmel vortäuschen, zumindest sprachlich. Das ist so eingefleischt in die Gesellschaft, dass ich schon viele hässliche Streits deswegen mit Leuten hatte, weil sie einfach nicht verstehen, dass das Diskriminierung ist. Inzwischen habe ich – sehr zu meinem Bedauern – aufgehört, ständig “BetI” zu sagen, wenn mal wieder jemand Beta zu unserer Tochter sagt (also die männliche Form). Krieg ich hohen Blutdruck von. Von da ist es doch nur noch ein kleiner Schritt zur Mülltonne, schließlich trifft man an jeder Ecke auf Verständnis. Ich glaube nicht, dass indische Leser schockiert wären von solchen Nachrichten in der Zeitung etc. Die wissen alle wie es läuft und, wenns hart auf hart kommt, wollen die auch keine Mädchen.

    Ich kenne zwei Fälle im persönlichen Umfeld, in dem FÜNF mal versucht wurde, ein Sohn zu zeugen. Glücklicherweise wurden die fünf entstandenen Tochter nicht abgetrieben, und aufgehört hat man erst, als das sechste Kind endlcih ein Sohn wurde. Pervers ist das.

    In Deutschland werden Geschlechtsbestimmungen zwar vor der 12. woche durchgeführt (per Bluttest geht das), aber das Ergebnis wird erst nach der 12. Woche bekannt gegeben, um solche geschlechtsspezifische Abtreibung zu vermeiden. Meines Erachtesn wäre es in Indien besser, wenn Abtreibungen nicht bis zur 20. Woche legal wären (im Gespräch sind gar 24 Wochen), denn da man das Geschlecht erst nach der 16. Woche überhaupt erst erkennen kann, wäre die Einfachheit der Ultraschalluntersuchung dann kein Problem mehr. So oft ich auch den “ich will das Geschlecht des Babies nicht wissen”-Wisch unterschrieben habe in Indien, so oft wusste ich auch, dass ich einfach nur mit dem nötigen Kleingeld hätte fragen brauchen.

    Schön, dass das Mädchen überlebt hat. Aber ich habe Zweifel, ob sie ein so gutes Leben haben wird. Waisenhäuser in INdien…. ich weiß nicht.

    LG
    Daniela