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Grauer Morgen, graue Gesichter, kalte sechzehn Hochsommer-Grad in Norddeutschland. Miners Cafe, Braunschweig, Milchkaffee und Käsekuchen zum Frühstück, im großzügigen Raucherexil in einer windigen Ecke draußen vor der Tür. Meine kalte Hand wickelt sich um die warme Tasse als ich eine Zigarette anstecke und endlich Mails abrufe. Seit neun Tagen sind U. und ich in Deutschland, morgen darf ich endlich wieder weg.

Ich versuche, unvoreingenommen zu sein und die Menschen hier mit der gleichen Offenheit und Sympathie wahrzunehmen wie in Indien, doch das gelingt mir nur mangelhaft: Zu groß ist die Diskrepanz zwischen der Wärme und dem Lachen Indiens und den verschlossenen Gesichtern in D. Egal, wie lange man weg ist: Nichts scheint sich zu verändern in good old Germany, alles ist brav, wenig beweglich und so unglaublich ernst, dass ich kotzen möchte. Kinder, lächelt Euch doch mal an! Seid nett zueinander, Ihr lebt nur einmal und das genau jetzt!

Und während ich da so sitze und friere und rauche, merke ich, wie auch ich immer enger werde, dass meine Gesichtszüge erstarren und ich wenig lache. Deutschland hat mich wieder und ich hab‘s immer noch nicht gelernt, mein Reise-Ich herüberzuretten. Na, toll, Julia.

Ich vermisse den Tanz auf Indiens Straßen, das Geknäuel aus PKWs, Rikshas, stinkenden Lastern, abgehalfterten Bussen, die Fahrräder, Mopeds, Roller, die stehenden, gehenden, hockenden, schlafenden Menschen an den Straßenrändern, die Kühe, selbstverständlich die Hunde, die Esel, die gelegentlichen Kamele, die buntgeschmückten Pferdchen und die Ochsenkarren, ja, selbst die Bettler an den Kreuzungen, denn unentwegt strahlt dort Lebendigkeit aus den einskommazwei Milliarden Menschenaugenpaaren, egal, ob die Augen zu einem Krüppel, einer halbblinden, strichdürren Greisin oder einem Schulmädchen gehören, das in seiner feinen Uniform an einer wiederkäuenden Kuh vorbeihüpft.

In Deutschland strahlt nichts, keiner ist glücklich oder offensichtlich unglücklich, höchstens beschäftigt mit sich selbst, zu beschäftigt, um zu leben. Kein Kontakt.

Das ist in Indien anders. “Big Mother India” hat Schreibergott Timmerberg treffend diesen Urgrund allen Seins genannt, und so fühle ich mich dort auch: Geborgen im Kreislauf des Lebens mit all seinen Erscheinungsformen, einverstanden mit fast jedem Ruck in meinem Rad des Lebens, d’accord mit Veränderung, wenn ich mal wieder auf der falschen Spur bin und zuviel festhalten will.

Big Mother India hat für jeden einen Platz, mag er auch ärmlich sein, und verdammt hart, aber nur das Neben- und Miteinander all dieser Lebensformen birgt das ganze Paket Leben. Indien ist Wiege und Sterbebett zugleich und zeigt das auch. Das mag man, oder auch nicht.

Man verstehe mich nicht falsch: Deutschland hat Vorteile, Deutschland ist sauber und ruhig, in D. gibt es wenig Korruption, diese Zecke der Gemeinschaft, es hat eine brauchbare Gerichtsbarkeit, ist eine echte Demokratie, ja, ja, zugegeben. Aber Deutschland ist für mich auch das Land der emotionalen Autisten: Mir fehlen spontane Liebe, Großherzigkeit im Straßenbild, und vor allem der Lebenssaft, vor dem Indien sprüht: Freude. Einfach die Freude, am Leben zu sein. Und die Dankbarkeit dafür. Etwas, was ich hier täglich von fast jedem lerne, dem ich begegne. Insbesondere von den Armen, den Bettlern, den Streetkids. Etwas, das ich in 41 Jahren in Deutschland nicht gelernt habe, aber das ist natürlich eine rein subjektive Geschichte. Indien hat mir das dann immerhin mal in drei Monaten gesteckt. Not a bad result, Mother.

Nun gilt es, diesen emotionalen Zustand auch in Länder herüberzuretten, die mir mentalitätsbezogen nicht so zusagen. Es ist einfach, im Land der Großherzigen großherzig zu sein. Da habe ich noch eine Menge zu lernen, bin noch viel zu abhängig von den äußeren Umständen und das ist nicht Freiheit. Nur weil ein Haufen Leute um einen herum schlimmstenfalls kleinkarierte Spießer sind, muss man nicht mit dem selben Kleingeist darauf reagieren, denn das setzt den Krieg nur fort. Aber da begegne ich einer persönlichen Schwäche von mir: Ich hatte noch nie ein Problem damit, Underdogs zu mögen, die hatten schon immer einen Bonus. Schwierig wirds für mich bei den Selbstgerechten, den Maßreglern, den Engherzigen, die aus Neid oder anderen ungünstigen Geisteshaltungen denen, die Spaß am Leben haben, denselben vermiesen wollen. Dann wird‘s für mich eng, da knirsche ich schon mal mit den Zähnen.

Mitgefühl? Oh ja, sollte man haben, gerade mit ihnen. Aber das ist noch ein langer Weg für mich. Mother India wird dabei hoffentlich helfen.

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