Tokyo, my love. Vollkommen gaga.

Das Dreckloch Indien hat uns wieder: Das habe ich boshafterweise zu U. gesagt, als wir gestern Nacht in Mumbay Airport nach 24 Stunden Viehtransport, der sich heute Reisen nennt, aus dem Airbus 340 kippten und uns eine Welle feuchtheißen Gammels entgegenschlug, vermischt mit ein paar Kloake-Atomen aus dem nächstgelegenen Slum, der sich gleich um die Ecke befindet.

Das ist politisch nicht korrekt und auch nicht ernst gemeint. Aber wenn man aus dem antiseptischen Japan kommt, werden einem schon winzigkleine Unterschiede bewusst.

Also, was gibt es über Japan zu schreiben?

Zuviel, um überhaupt anfangen zu können, dazu ist es zu divers. Wählen wir deshalb einen kleineren Ausschnitt und fangen mit Tokyo an. Vielleicht folgendes: Ich habe noch nie so viele sorgfältig gekleidete Menschen gesehen wie in diesem 35 Millionen Moloch. Sorgfältig bezieht sich dabei auf jede erdenkliche Spielart des Ankleidens, zu denen Menschen fähig sind. Ich meine, Menschen haben gewisse physische Gegebenheiten: Jeder Durchschnittsmensch hat zwei Arme, zwei Beine, einen Oberkörper und einen Kopf, die er in irgendwelche Kleidungsstücke zwingen muss, schließlich dient der Lendenschurz nur in den ländlichen Gegenden Indiens (und denen anderer Länder) als akzeptables Bekleidungsstück.

In Tokyo gibt es alles: Grunge-, Punk-, Schulmädchen-Uniform; Nadelstreifenbanker oder Jakuza-Member in feinen Anzügen (wer weiß es genau?), Prada, Hermes, Gucchi, Armani, Dior, Yves-Saint-Laurent, Chanel, Issey Miyake, oder, wie ein Japaner sagen würde, Miyake Issey, D+G, blabla, blaba.

Und, das Erstaunliche ist: Die Leute tragen das! Sie sind top-gekleidet, wirklich T-O-P, und das T von T-O-P steht vor allem für eines: TEUER. Bei keinem Exemplar der Tokyoter Belle Monde fehlt irgendetwas, um das Statement zu setzen, das er oder sie setzen möchte, nichts bleibt dem Zufall überlassen, jede Haarsträne sitzt Drei-Wetter-Taft-mäßig an dem ihr zugedachten Platz: “Sitz”, sagte die Göttin und das Haar gehorcht, volle 24 Stunden lang. Sei es Punk oder Armani: Beim Punk sitzen die Löcher exakt da, wo sie hingehören, beim Armani-Junkie das goldene A, oder was immer einen Armani-Jünger auszeichnet. Wirklich schön und ästhetisch, und die Leute geben mit Sicherheit eine Menge Geld für ihre Außenwirkung aus – nur: auf die Dauer etwas ermüdend. Vielleicht wird die Metro in Tokyo deshalb vor allem für eines genutzt: Schlafen.

Ich kenne keine Stadt, in der dermaßen viel Augenmerk auf die Kleidung gerichtet wird: Tokyo lebt davon. DU bist nicht, DEINE KLEIDUNG ist. Sie ist das, was Du gern sein möchtest, wie Du gern wahrgenommen werden möchtest. Ist der Mensch genau wie seine Kleidung? Ein Abziehbild der Modemarke?

Die Häufung legt es nahe: Ob man in Shibuya, Shinjuku, auf der Omote-Sando oder in Ginza ist: Die Marken bestimmen das Bild – How did they get that addicted?

Eine zweite Sache macht für mich das Straßenbild Tokyos aus, und die nennt sich LEGS. Ich habe noch nie, in keiner verdammten Stadt dieser Welt, so viele Beine gesehen, und, das gestehe ich neidlos zu: So viele SCHÖNE Beine, wenn auch meistens mit einer leichten X-Tendenz behaftet, aber wen stört das schon?

Beine in Cowboystiefeln, Beine in Ballerinas, die meisten Beine mit High-Heels am unteren Ende, 14 Zentimeter Absatz sind keine Ausnahme, and how they can move!

Yeah, Legs. Beine als Statement, Beine als Modeaccessoire, Beine, die dem knappen Schurz von einem 25 cm Mini-Rock entspringen, wohlgeformter Hintern inklusive. “Nimm mich, Babe, aber nur wenn Du es Dir leisten kannst”, flüstern diese Beine und der unverkrampfte Umgang mit Attraktivität und Sex ist eine wohltuende Abwechslung zu dem verkrampften Getue in Indien, auch wenn ich in ausgebeulten Jeans und Turnschuhen unterwegs bin – kein Freier für mich und das ist o.k.

Die Jungen und Schönen von Tokyo folgen einem Zwang, dem Zwang der Individualisierung, dem vermeintlichen Abheben von der Masse, und sind dabei verdammt uniform. Das ist witzig, denn es steckt so viel Anstrengung darin, ANDERS zu sein als andere. Klappt in diesem Fall nicht, tut mir leid.

Als Fazit haben wir die Stadt der Jungen und Schönen, und, ich hätte es beinahe vergessen, der Reichen. Das ist doch auch etwas, oder?

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5 Responses to “Tokyo, my love. Vollkommen gaga.”

  1. anja says:

    erinnerst du dich an die hollywood serie “reich und schön”??? 😉
    klingt auf jeden fall sehr interessant und ebenfalls SEHR ANDERS. aber auch asien…verrückt.
    wäre aber, glaube ich, auf längere zeit auch nichts für mich…
    aber hey, es scheint doch so einfach, anders als der rest zu sein: einfach in h&m herum laufen!

  2. jules says:

    hallo anja,

    it´s fucking crazy, man! aber von der guten sorte…ich würde sofort gehen, nach unseren drei jahren indien, wenn wir die chance bekommen – allein den leuten in der bahn beim schlafen zuzugucken, alle mit ihren op-masken auf den nasen, ist göttlich!

    ja, ich werde noch ein paar posts auf tokyo und japan im allgemeinen verwenden. was für ein kontrast!

    warte, bis ich mit den bildern von shibuya, shinjuku, harajuku herausrücke, den tempeln, der kirschblüte und, nicht zuletzt, von der architektur. vielleicht überlegst du es dir dann noch einmal…

    h&m habe ich auch gesehen – hmm, wär also ne alternative. obwohl die sicher andere klamotten haben als h&m deutschland, soviel ist klar!

  3. sarangiji says:

    Hallo Julia,
    nice to have you again!

    Ist ja sehr interessant, was Du schreibst. Aber im Grunde sehe ich keinen großen Unterschied zu München oder Stuttgart. Auch hier sind in den letzten Wochen die Beine wieder aus den Hosen und die Arme und Busebn wieder aus den Pullovern gekommen, und ab und zu läuft eine/r total aufgebrezelt oder wie man da sagt ausgeflippt rum. Hast Du in Japan die neue Mode der bedruckten Röcke/Kleider gesehen, die so aussehen, als ob das Kleidungsstück duröchsichtig ist – ist aber nur ein Aufdruck?

    LG
    Andreas

  4. Kerstin says:

    Hallo Julia,

    welcome back im heissen Indien. Ich bin gerade in Deutschland und geniesse den Unterschied und muss auch sagen, hier hat sich in den letzten 2 Jahren kleidungstechnisch viel, viel getan. Irgendwie sehen die Menschen alle schick aus, riechen und benehmen sich gut, einfach herrlich.

    Dann bin ich auf die anderen Japan-Bilder, mit Kirschbluete usw. gespannt.

    LG
    Kerstin

  5. Daniela says:

    Hallo Julia,

    Ich glaube, zumindest diese Seite Tokyos würde mir gefallen. Es war auch dieser Faktor, der mich so unglaublich mit München und Frankfurt versöhnt und in Shanghai überrascht hat: Schöne Menschen, die auf ihr Äußeres achten. Es ist für mich entspannend, von schönen Menschen umgeben zu sein – und damit meine ich einfach eine gewisse äußerliche Ordnung. Das tut gut. Man fühlt sich gleich viel frischer, wenn man nicht überall Schweißflecke und … na ja… so Dinge halt sieht.

    LG
    Daniela