grey skies over paradise

‘Das Ich ist nur eine Schwingtür, die sich bewegt, wenn wir ein- und ausatmen‘
Shinryu Suzuki

Ich wache auf und mein Herz ist so schwer wie der bleigraue Himmel, dessen Wolken den lang ersehnten Regen bringen, der die ganze Nacht gefallen ist; der unser Haus einhüllt in einen Kokon schläfrigen Rauschens. Auch jetzt, in der Morgendämmerung, fallen Schleier dicker Tropfen und verwandeln den roten Lehm der benachbarten Baustelle in neblige Seen, an denen die Hunde herumschnüffeln.

Gedanken tauchen aus dem Rauschen des Regens auf, Sätze perfekter Erkenntnis, die mein Leben betreffen, meine Vergangenheit, die Gegenwart. Ich lasse sie zu und verscheuche sie nicht, auch wenn es weh tut, was ich zu hören bekomme. Ich weiß, dass sich ein Leben nicht über Nacht ändert, also versuche ich, den Schmerz zu umarmen, den Wahrheit verursacht: “Shh, habe Geduld, mein Kind”, flüstert die Stimme in mir und ich weiß, dass sie recht hat.

Ich denke an Charlotte Joko Beck, eine großartige Zen-Lehrerin, die sagt, dass fortgeschrittene Schüler lernen, vermeintlich unglückliche Situationen als großartige Gelegenheiten zu sehen, um an sich zu arbeiten. “Man lernt am meisten, wenn es wirklich weh tut”, sagte sie einmal in einem Portrait, das die Hamburger Filmemacherin Claudia Willke (www.willkefilm.de) über ihre Arbeit gedreht hat. Nun, ich bin nicht fortgeschritten, aber ich weiß, dass das Ändern der äußeren Umstände nur kurzfristige Erleichterung verschafft. Es gibt immer etwas, das uns Menschen fehlt/stört/unglücklich macht/was man gern anders hätte oder Angst hat, zu verlieren. Deal with it. Und zwar genau mit der Situation, die für Dich so unangenehm ist, je unangenehmer, desto besser. Halt es aus. ERLEBE, was Du fühlst, wo es Dich juckt, zwickt, wo es so sehr weh tut, dass Du am liebsten schreiend davon rennen möchtest. Lachender Buddha, weinender Buddha.

Wir sind süchtig nach angenehmen Umständen und auf der Flucht vor Schmerz und Angst. Ständig. I don´t want to run away, anymore.

Ich sehe U. zu, wie er sich liebevoll für den Tag zurecht macht, einen weiteren langen Arbeitstag in der Firma, die so viel Zeit seines Lebens beansprucht, Zeit und Aufmerksamkeit. Als er schon auf der Treppe ist, rufe ich ihm leise nach: “Ich werde Dich vermissen, heute!” “Danke!”, antwortet er unpassenderweise, in Gedanken schon ganz bei der Firma.

Dann fällt die Tür ins Schloss und ich bin allein mit dem Rauschen des Regens, den Baustellenhunden, einem schlafenden Kalu und meinem Atem – Das Ich ist nur eine Schwingtür, die sich bewegt, wenn wir ein- und ausatmen.

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11 Responses to “grey skies over paradise”

  1. Monika says:

    Lass dich mal ganz fest umarmen.
    Du kannst schöne, positive Gefühle nur dann auskosten, wenn du auch die negativen Gefühle erfährst.
    Das hilft dir zwar jetzt nicht weiter, aber ich wünsche dir, dass diese für dich bedrückende Zeit bald zu Ende ist und du wieder Sonne in deinem Leben spürst.

    Liebe Grüße
    Monika

  2. jules says:

    Danke für die guten Wünsche, Monika!

    Und sicher freue ich mich, wenn das, was mich momentan belastet, sich irgendwann zum Positiven verändert.

    Auf der anderen Seite sehe ich es genau so, wie oben beschrieben: Wenn die Umstände nicht nach unserem Geschmack sind, ist es eine gute Gelegenheit, daran zu wachsen, sich unabhängig davon zu machen. Von diesem Standpunkt aus betrachtet, ist das hier eine gute Zeit.

    Liebe Grüße zurück!

    J.

  3. Daniela says:

    Hallo Julia,

    was du über äußere Umstände und unseren Drang, diese unseren Erwartungen anzupassen, gesagt hast, erinnert mich spontan an die heutige Kolumne in der TOI über die glücklichen Dänen. Sehr zutreffend.

    Ohne dich dazu drängen zu wollen, die Antwort auszuplaudern: Kennst du die Ursache, weswegen du so unglücklich bist?

    Viele Grüße,
    Daniela

  4. jules says:

    Hi Daniela,

    allerdings kenne ich die Ursache für meine Unzufriedenheit/ mein Unglücklichsein. Die Ursache liegt vor allem in meinem ANSPRUCH, wie ein erfüllendes Leben auszusehen hat. Und wenn mein Anspruch mit den Realitäten kollidiert, werde ich unmutig, höchst unmutig zuweilen.

    Und dann gilt oben Gesagtes: Guter Stoff für Übung. Denn das Leben ist JETZT und es ist so, wie es ist und findet nicht in irgendeiner Zukunft statt, so gern wie wir es manchmal auch anders hätten.

    Warum mein Anspruch mit den Realitäten kollidiert?

    Hehe, I´m not gonna write about this one!

    Liebe Regengrüße nach Mumbai,

    Julia

  5. Daniela says:

    Hallo Julia,

    dann bleibt mir nur zu wünschen, dass du dich mit den Gegebenheiten arrangieren und dem Ganzen positive Seiten abgewinnen kannst. Tja, das klingt wieder banal und abgedroschen, aber ich nehme an, so sind gute Wünsche nun mal. 🙂

    LG
    Daniela

  6. jules says:

    Danke!

    Ich arbeite daran!

    LG

    J.

  7. anu says:

    Monsun Blues? Ich hab heute auch gerade mal wieder so einen Tag. Da hat man einen Haufen Plaene und dann werden sie verregnet. So ist das Leben, zum Ausgleich habe ich MIR heute einen Kaesekuchen gebacken.
    Bei mir hilft auch ein gutes Buch oder zur Not eine nette DVD.

    lg
    anu

  8. Kerstin says:

    Oder….. einfach seine Gedanken und Gefuehle hier (oder auch woanders, egal) niederschreiben. Das hilft zumindest bei mir, danach bin ich um mindestens 10 kg leichter.

    Ich “struggle” auch oft mit Situationen, die nicht so sind, wie ich es will, mit Menschen, die mich nicht verstehen (koennen/wollen), mit Dingen, die ich nicht so erledigen kann, wie ich es will usw. usf. Aber am Ende des Tages (oder der Situation) denke ich mir oft, hey, ich LEBE und bin GESUND, was kann es eigentlich wertvolleres im Leben geben?

    In diesem Sinne, meine Mama hat immer gesagt: nach Regen folgt Sonnenschein und damit hatte sie recht, denke ich.

    LG
    Kerstin (1 1/2 Schreiberin)

  9. ach mädels….auch wenns abgedroschen klingt, ists doch gut, wenns mal jemand sagt/schreibt: sab theek ho jayega! 🙂
    alles liebe nach indien
    anja

  10. Steffi says:

    Julia, ich drücke Dich auch mal! Und kann mich meinen Vorschreiberinnen leider nur anschließen. Wenn jemand für uns schon die Lösung für das Problem, das wir vielleicht alle kennen, hätte, könnten wir vielleicht mehr schreiben.

    “Man lernt am meisten, wenn es wirklich weh tut”

    Es hat auch bei mir grad schrecklich weh getan und mich gleichzeitig bereichert, denn ich “durfte” einen Sterbenden bis zu seinem letzten Atemzug und darüber hinaus begleiten und versuchen, seinen Angehörigen (zu denen ich auch gehöre) Kraft zu geben.
    Es war hart und unglaublich intensiv, dennoch hatte ich keine einzige Minute lang das Bedürfnis, wegzulaufen und dieser schwierigen, schmerzhaften Situation zu entkommen.

    Das Leben ist schon manchmal eigenartig. Da kann das Sterben keine Ausnahme sein.

    Tut mir leid, ich wollte Dein Thema nicht vereinnahmen, aber ich finde, irgendwie passt es gerade.

    Ganz liebe Grüße,
    Steffi

  11. jules says:

    Ach Steffi!

    Der Verlust tut mir leid, Dein Beistehen finde ich großartig – und die Chance, die darin liegt, sich mit Sterblichkeit und Verlust und Vergänglichkeit auseinanderzusetzen, auch!

    Genau darauf beziehen sich meine Worte auch: Dass es wenig Sinn macht, sich ständig mit den kleinen Ego-Zipperlein auseinanderzusetzen. Es wird mehr Kraft, mehr Mut und mehr Einsicht brauchen, wenn es an der Zeit ist, abzutreten und alles hier loszulassen. Es ist gut, meine ich, das schon zu Lebzeiten ein wenig zu üben und sich vom Ego-Ballast zu befreien. Wir alle werden alles verlieren, sowieso.

    Alles, was bleibt, ist die Wertschätzung des Augenblicks, so, wie er ist. Aber das ist eben auch schwierig, weil wir so viel wollen, in und von diesem Leben.

    Es ist schön und kostbar, dass Du bleiben konntest und nicht weglaufen musstest – tapfer und stark. Ich freue mich für Dich darüber. Nimm Dir Zeit, das Erlebte zu verarbeiten!

    Und sei wirklich herzlich umarmt – ich lache mit Dir und weine mit Dir, hier in Pune.

    Julia