Ein weiter Weg. Noch immer.

Endlich. Endlich frei.

In einem Grundsatzurteil des Delhi High Courts wurde Sektion 377 des indischen Strafgesetzbuches vergangenen Donnerstag für verfassungswidrig erklärt, der homosexuellen Geschlechtsverkehr unter Erwachsenen auch in privaten Räumen unter drakonische Strafe gestellt hatte. Bislang konnten Homosexuelle für den in Sektion 377 als widernatürlich kriminalisierten Verkehr mit einer zehnjährigen bis lebenslangen Haftstrafe bestraft werden, auch wenn de facto während der letzten 20 Jahre keine Verurteilungen mehr ausgesprochen wurden. Dennoch: Homosexuelle blieben erpressbar.

Das hat nun ein Ende, wenn es nach dem Willen der Richter geht, die deutlich machten, dass das Gesetz die verfassungsmäßig garantierten Rechte der persönlichen Freiheit und Gleichheit verletze sowie das Verbot von Diskrimierung.

Willkommen im 21. Jahrhundert, Indien.

Ich hätte Freudenfeuer erwartet, lachende, tanzende Menschen allerorten, die diesen wichtigen Schritt Indiens in eine ernst zu nehmende Demokratie feiern. Es hat nicht sollen sein.

Zwar titelte die Times of India “India´s Gay Day”, zeigte glückliche, sich umarmende Schwule und sprach von einem längst überfälligen Schritt zur Globalisierung und einem Meilenstein der sozialen Entwicklung. Aber ist diese Entwicklung auch schon in den Köpfen der Menschen angekommen?

Natürlich beklagen religiöse Führer den Verfall der Moral und betrachten das Urteil des höchsten Gerichts als einen Affront auf alles, was die indische Gesellschaft zusammenhält, Würde, Ehre, Moral, Ethik – nach ihrer Interpretation. Und natürlich halten diese Menschen daran fest, dass Homosexualität etwas Unnatürliches sei, ein Verhalten gegen Gott und die Gesetze der Natur (Shahi Imam Ahmad Bukhari, Jama Masjid, Mumbai; Gyani Gurbachan Singh, Akal Takth; Pt Vasantrao Gadgil, hon.prof. Indian International Multivarsity etc.etc.)

Das war nicht anders zu erwarten.

Allerdings hätte ich gedacht, dass zumindest junge Leute dieses Urteil als Befreiungsschlag, als Schritt in die richtige Richtung ansehen würden. Nun, auch dem ist nicht so, jedenfalls nicht, wenn die Umfrage des Pune Mirror in irgendeiner Form repräsentativ ist. Darin hatte die Zeitung gefragt, ob die Entkriminalisierung von Homosexualität nach Ansicht der Befragten die Gesellschaft zum Positiven verändern werde.

Nur eine Frau, eine 20-Jährige, hat die Frage vollumfänglich bejaht. Alle anderen 20- bis 40-Jährigen befürchteten einen negativen Einfluss durch die Legalisierung von Homosexualität auf “all those who are normal”.

Man beachte die Formulierung: Homosexuelle sind also nach Meinung der Befragten nicht “normal”.

Gefragt habe ich mich auch, worin denn der befürchtete negative Einfluss nicht kriminalisierter Homosexueller auf die normalen Menschen liegen sollte: Schließlich haben diese ihre Nasen aus den Schlafzimmern ihrer homosexuellen Mitmenschen herauszuhalten, oder?

Jungs und Mädels, ihr “normalen”, das geht Euch doch gar nichts an!

India – you´ve got a looong way to go.

Tags: , , ,

14 Responses to “Ein weiter Weg. Noch immer.”

  1. nein, nein, das ist selbst bei der indischen jugend noch längst nicht bandbreit angekommen. diese verständnis, dass auch in diesem punkt kein “abnormal” gilt…
    habe erst neulich einer gerade in deutschland verweilenden inderin erzählt, dass ich überlege, was ich zur hochzeit zweier (männlicher) freunde von mir anziehe…hatte überlegt, meinen sari mal wieder rauszuholen. naja, sie war erst sehr begeistert und wollte mir nochmal wickeln üben helfen, als sie dann aber erfuhr, dass es sich um zwei männer handelt, bekam ich ein “eeeewww”… sie war wirklich angeekelt. und ich sehr verletzt, denn schließlich handelt es sich um wirklich liebe freunde von mir. und DAS verhalten empfinde ich dann wiederrum als respektlos. aber gut, ich werde ihr gegenüber das thema nicht wieder anschneiden, weil mir durchaus bewusst ist, dass eine diskussion vollkommen unmöglich ist…. 🙁
    oder?
    lg anja

  2. Daniela says:

    In Mumbai waren die Reaktionen in den Medien deutlich positiver. Allerdings wirkt sich diese Gesetzesänderung wirklich nur auf der juristischen Ebene aus: klar können Schwule nicht mehr polizeilich erpresst werden. Aber die Gesellschaft ändert sich ja nicht über Nacht. Es ist immer noch verpönt, sich zu einer alternativen Sexualität zu bekennen, also kann es sich der “Normalo” immer noch nicht leisten, sein coming-out zu haben: Familie, Nachbarn, Kollegen, Gesellschaft – die sind doch noch genau so dagegen wie zuvor. Genau so ist es vermutlich anrüchig, wenn man sich vor die Kamera stellt und sagt, man unterstütze die jüngste Gesetzesänderung.

    “Gefragt habe ich mich auch, worin denn der befürchtete negative Einfluss nicht kriminalisierter Homosexueller auf die normalen Menschen liegen sollte:” – – Ist das nicht wie in Deutschland, wo immer noch viele Menschen glauben, die Familie sei in Gefahr, wenn man Homosexuellen die Ehe ermöglicht? Ganz so, als zerfiele mit jeder schwulen Ehe gleichzeitig eine Heteroehe.

    LG
    Daniela

  3. sarangiji says:

    Diese Gesetzesänderung hat man ja sicher nur gemacht, um das von Daniela angesprochene Frauenmangelproblem, ausserdem das Mitgiftproblem und was sonst noch alles in den Griff zu bekommen!?

    Normal ist, was die Norm ist, ISO DIN…
    Die Norm in der Technik lässt keine Abweichung zu. Wenn das Gewinde nicht der Norm entspricht, passt der Bolzen halt nicht in die Mutter. Wenn man keine passende Mutter hat hilft es auch nicht zwei Bolzen zu nehmen. Ausser ich schweiße die Bolzen zusammen. Dann habe ich aber keine lösbare Verbindung mehr. Wenn ich also zwei Bolzen anstelle einer Mutter und eines Bolzen nehme, und das dann auch noch als Norm zulasse, dann pervertiere ich die Normgebung. Ich mache eine Krampflösung zum Normfall. Absurd.

    Naja, man macht die Homoehe in Dt. ja auch zu einem der Normalehe gleichberechtigten Fall. Absurd. In meinen Augen.

    Zumindest Jugendliche sollten (wie das meiner Meinung nach in Dt. immer noch der Fall ist) vor dem Doppelbolzen oder Doppelmutterfall geschütz werden. Aber vielleicht sind solche Bolzen/Spitz-Findigkeiten in Indien unangebracht?

    LG
    Andreas

  4. Kerstin says:

    Ich hatte nicht erwartet, dass Indien vor Freude aufspringen wird. Gerade dieses Thema ist ja nach mehr als 30 Jahren noch nicht einmal in den westlichen Koepfen angekommen. Was will ich dann von einem Land erwarten, in dem sich nicht mal die Eheleute oeffentlich an die Hand nehmen oder gar kuessen, in dem junge Frauen aus Kneipen gepruegelt werden, in dem man als weisse Frau als Nutte angesehen wird, wenn man mit einem Inder zusammen gesehen wird usw. usf.?

    Und der Glauben an sich (egal welcher) steht solchen Modellen natuerlich gaenzlich im Wege, denn schliesslich entspringen nur aus Hetero-Ehen die naechsten Generationen…. Umso glaeubiger ein Volk, umso schwerer wird es ihm fallen, diese anderen Konstellation in den Koepfen zuzulassen. Versuch mal im tiefsten Bayern, Deinen Eltern und damit dem ganzen Dorf begreiflich zu machen, dass Du eine andere Lebensform gewaehlt hast, da wird man auf genau dasselbe Unverstaendnis und Gefasel vom Zerfall der Moral und Traditionen treffen.

    Ich bin froh, dass Indien diesen Schritt gemacht hat. Fuer mich ist jede Lebensform eine natuerliche, da sie vom Mensch gewaehlt wurde. Dass die Umsetzung schwierig wird ist klar, aber zumindest muessen Homosexuelle jetzt offizielle nicht mehr um ihr Leben fuerchten. Wie sich dies in der Praxis gestalten wird, bleibt abzuwarten…..

    LG
    Kerstin

  5. Daniela says:

    @ Andreas
    “Diese Gesetzesänderung hat man ja sicher nur gemacht, um das von Daniela angesprochene Frauenmangelproblem, ausserdem das Mitgiftproblem und was sonst noch alles in den Griff zu bekommen!?”

    Nein. Es geht wirklich nur darum, Homosexuelle vor Übergriffen zu schützen, indem man sie entkriminalisiert. In den letzten Jahren gab es gar keine neuen Anzeigen gegen Homosexuelle mehr, dafür aber täglich Repressalien durch die Polizei, zum Beispiel. Ganz hässliche Sachen sind da passiert. Indem man Section 377 aufgemöbelt hat, sind Homosexuelle wenigstens vor dieser Art Übergriffe sicher. Das ist gut so. Ganz egal, wie man zur Homosexualität steht, ist es nicht vertretbar, dass die Polizei es sich zum Hobby macht, diese Menschen zu drangsalieren.

    LG
    Daniela

  6. jules says:

    Ich denke, wir müssen da erst einmal zwei Dinge sauber trennen:

    Die Kriminalisierung und strafrechtliche Verfolgung von privat gelebter Homosexualität auf der einen

    und

    weitergehende Gesetzesänderungen wie Gleichstellung von gleichgeschlechtlichen Lebensgemeinschaften auf der anderen Seite.

    Das sind zwei Paar Schuhe.

    Ich hätte gedacht, dass zumindest der erste Schritt von jungen, liberalen Indern begrüßt würde. Ich kann nicht verstehen, dass sich dadurch offenbar schon so viele Menschen bedroht fühlen, denn dieser erste Schritt betrifft doch allein die PRIVATSPHÄRE der Betroffenen und fremde Schlafzimmer gehen doch nun wirklich niemanden etwas an. Wo liegt da die Bedrohung?

    @ anja: Schwierig! Ich glaube, ich könnte es nicht lassen, mit meiner Freundin darüber zu diskutieren. Aber vielleicht hast Du recht und lässt es, um des lieben Frieden willens. Allerdings hätte ich fortan Schwierigkeiten mit einer Freundschaft, in der von meinem Gegenüber nicht einmal die grundsätzlichen Menschenrechte respektiert werden. Aber Du wirst schon wissen, wie Du damit umgehen möchtest. Schade!

    @ Daniela: Klasse Vergleich: … “Ganz so, als zerfiele mit jeder schwulen Ehe gleichzeitig eine Heteroehe”

    @ sarangiji: Die Homosexualität ist so alt wie die Menschheit. Ich glaube, wir können uns darauf einigen, Homosexualität also als etwas völlig “Normales” anzusehen. Warum also diesen Menschen nicht dieselben Rechte zugestehen, wie allen anderen auch, zumindest solange keine Dritten involviert sind?

    @ Kerstin: Du hast vollkommen recht: Was war zu erwarten, in Anbetracht der Dinge, die Du angesprochen hast und die täglich hier die Zeitungen füllen?
    Ich hatte dennoch gehofft, against all odds, dass zumindest jüngere Generationen eine andere Sicht der Dinge hätte. Aber, da haben wir es wieder einmal, viele von ihnen, die den entsprechenden Horizont haben, leben wahrscheinlich im Ausland. Zurück bleibt….?

    LG an Euch alle,

    J.

  7. Steffi says:

    Meine letzte Diskussion über Werte und Moral führte ich vor wenigen Wochen in einer Fortbildung mit einem Mann meines Alters.
    Er beklagte, die Moral würde “sinken”, Werte weniger wert.
    Ich war der Meinung, Werte würden sich eben nicht verschlechtern sondern sich verändern.

    Was vor vielleicht 100 oder 50 Jahren total “normal” und völlig in Ordnung war, nämlich beispielsweise die Vergewaltigung der Frau in der Ehe, steht heute unter Strafe.
    Mit Eltern und Großeltern in einem Haus zu leben war damals normal, ging oft gar nicht anders. Heute lebt jeder für sich, muß sich um seinen Beruf kümmern, hat gar keine Zeit mehr für die Familie, andere Interessen.
    Das Leben verändert sich, was heute normal ist, ist morgen nicht mehr nötig. Was normal ist, verändert sich.
    Aber wird es dadurch zwangsläufig schlechter?
    ODer ist es nur unsere Einstellung, die hinterher hinkt?
    Egal – das ist eine andere Diskussion.

    Interessant in dem Zusammenhang finde ich nur, daß mein Diskussionspartner dadurch auffiel, permanent nach höherer Entlohnung zu fragen. “Bekommt Ihr von Eurem Arbeitgeber mehr Geld, weil Ihr diese Fortbildung macht?” – “Wie – Du schenkst Deinem Arbeitgeber jeden Tag 5 Minuten Arbeitszeit!?” Etc. pp.

    Wer also am meisten auf Moral pocht ist nicht automatisch selbst moralisch erhaben.

    Schade, daß Indien noch nicht so weit ist. Andererseits dürfen wir selbst uns als Nation nicht sehr weit aus dem Fenster lehnen, denn in den Köpfen vieler unserer Zeitgenossen herrscht offensichtlich immer noch das Mittelalter.

    Ich weiß nicht, ob Euch mein Beitrag jetzt irgendwas gebracht hat. Ich mußte es nur einfach mal loswerden.

  8. @daniela: kannst du ein bisschen mehr zu den reaktionen in mumbai (presse oder leute) schreiben? das würde mich doch sehr interessieren, wie indiens “westlichste” stadt damit umgeht. was sind positive reaktionen in dem fall?

    @andreas: ich verstehe deinen vergleich (bzw das geschlussfolgerte resultat) leider nicht so ganz. du bist gegen die gleichgeschlechtliche ehe?

    im großen und ganzen empfinde ich diese gesetzesänderunge erstmal als ein anfangsschritt in die richtige richtung.
    es stimmt, wenn man sich ansieht, wie hier in dtl zum teil noch die reaktionen auf schwule oder lesbische pärchen sind, kriegt man das gruseln…das dauert, bis sich in den köpfen was ändert. aber eine anfang its gemacht!

    lg anja

  9. jules says:

    Oh, ich finde, Du sprichst da durchaus einen bedenkenswerten Aspekt an, den der Veränderung, auch die der gesellschaftlichen Werte. Auch sie gehört zur Evolution.

    Und ich kann mich nicht erinnern, von der Bildung der Gewerkschaften über Wahlrecht für Frauen oder Schutz von Minderheiten, dass diese Entwicklung bislang nicht für das Gros der Menschheit einen Fortschritt bedeutet hat, im Hinblick auf unendlich viele Aspekte des Lebens.

    Und diesen Fortschritt hätte ich auch Indien gewünscht, zumindest in Bezug auf die diskutierte Problematik. Aber dann wird es hier eben noch eine oder zwei Generationen dauern, bis die Idee der Homosexuellendiskriminierung vom Tisch ist, jedenfalls in den Köpfen der indischen Mehrheit.

    Immerhin – ein wesentlicher Anfang ist gemacht und darüber freue ich mich, auch wenn´s viele Inder nicht tun.

    Und gegen das Mittelalter in DEUTSCHEN Köpfen wehre ich mich ganz genauso. Doch das ist eine andere Geschichte.

    LG!

  10. sarangiji says:

    Ich kann eben nichts dafür. vielleicht bin ich zu alt.

    aber ich hab was dagegen. Ich finde es unnormal und unakzeptabel.

    Irgendwie sehe ich es als eine Krankheit an, die leganisiert wird.

    LG
    Andreas

  11. Steffi says:

    Ich finde einfach, es geht niemanden etwas an, was jemand anders im Schlafzimmer tut, wen er liebt und wie, solange dabei niemand missbraucht oder verletzt wird oder jemandes Rechte verletzt werden.

    Und ich persönlich finde es inakzeptabel, sich dafür zu interessieren und es regulieren, verbieten, beurteilen, verurteilen zu wollen.

  12. danke steffi! genauso sehe ich das auch.

  13. jules says:

    @ Andreas:

    Ich finde Deine Aufrichtigkeit bemerkenswert – gerade weil Deine Haltung definitiv nicht in den Zeitgeist passt. Schön, dass Du so ehrlich bist, ohne Deine Gefühle nach außen zu projizieren.

    PS: Ich habe gerade Deinen Feentanz wiedergefunden – so süß!

    Herzliche Grüße!

  14. sarangiji says:

    wenn du spanisch kannst: ich hab inzwischen auch einige spanische Gedichte auf bohemiayguitarra.blog.com.es.

    Gruß
    Andreas