Back in India. Update.

Ich bin ziemlich nachdenklich. Ich hadere mit mir, weil ich Indien als Dreckloch bezeichnet habe, bezeichnen musste. Und leider bezieht sich “Dreck” eben nicht nur auf ein paar unangenehme Gerüche aus nahegelegenen Slums.

Ich erinnere mich daran, wie glücklich ich war, all der organisierten Tristesse Deutschlands entflohen zu sein, letztes Jahr, und ich finde es erstaunlich, wie sehr sich die Wahrnehmung ändert, sobald man länger an einem Ort lebt: Die Exotik schwindet, der Alltag (und Einblick) kommt und mit ihm die Ernüchterung. Schade, auf der einen Seite, aber unausweichlich.

Ich bin nicht undankbar. Nach wie vor empfinde ich das Leben hier als große Bereicherung, denn es lässt mich staunen, jeden Tag, immer und immer wieder, trotz der bitteren Aspekte, die dieses Land hat.

Heute habe ich mich mit Abi unterhalten: Abi ist der Besitzer eines Delis, eines Delikatessengeschäfts in Wanowrie, bei dem ich neuerdings gelegentlich einkaufe. Ich stürmte heute morgen in sein Geschäft, um ein paar von seinen himmlischen, selbstgebackenen Butterkeksen zu ergattern. Abi begrüßte mich mit einem breiten Lachen und ich stellte ihm in meiner europäischen Naivität und in morgendlicher Frisch die direkte Frage: “So – have you already voted today?”

Ich blickte in ein verständnislos-vorwurfsvolles Gesicht, “What´s the point in voting here?” schoss Abi zynisch zurück – “What do you wanna vote here for? You don´t have any chance to influence the results here, anyway! Ever seen an overpopulated country with a reliable, committed , non-corrupt government? Think of China, think of Russia, think of India, has it ever made any difference? The goverments are all corrupt, always been.”

Ich stammelte: “I mean, it´s strange that all of the educated people don´t seem to vote here – You´re the intelligenzia, you´ve got social responsibility, why do you give your chance away to have an impact?”

Ich muss sehr naiv sein.

“There is no impact and we can´t change anything”, entgegnete mir Abi schnell und überzeugt. Dann sprachen wir von etwas anderem und ich verließ sein süßes Deli nachdenklich und ein wenig traurig. Wie kann es sein, dass alle Leute mit Grips und Horizont so wenig an ihr Land glauben?

Auf dem Rückweg nach Bund Garden dann ein anderes Bild, nicht weniger bestürzend:

Viel unmittelbarer, herzzerreissend und unfassbar brutal: Ich guckte gelangweilt nach links, in den Rinnsteinbereich, als mir beim Einbiegen in eine Straße ein Junge auffiel, vielleicht zwölf, vielleicht 13 Jahre. Er lag in der Gosse, sein Gesicht ein einziger Ausdruck von Schmerz, zum stummen Schrei verzogen, aus dem Mund blutend, sich windend, krümmend – und keine Hilfe in Sicht. Jeder latschte stoisch an ihm vorbei – ein Unfall? Eine fette Tracht Prügel? Ich hätte (natürlich) angehalten, wenn Kalu nicht gerade, hinten im Auto, selbst in lebensgefährlichen Umständen gewesen wäre: Er litt gerade an den Symptomen eines allergischen Schocks, hatte eine Spritze beim TA nicht vertragen, und ich musste verdammt schnell nach Hause.

Aber: Was wurde aus dem Jungen?

Ich weiß es nicht. Ich habe gestern vier Stunden an der Seite meines Hundes gehockt, ihn mit Eiswasser gekühlt, Antihystaminika verabreicht und gewartet, dass Kalu wieder “da” ist. Ich hatte in diesem Moment andere Sorgen als den verletzten, verlassenen Jungen auf der Straße.

Es scheint mir fast so, als sei dies ein Synonym für Indien: Jeder, wirklich jeder, kümmert sich nur um sich selbst. Vielleicht noch um die, die ihm nahestehen, aber dann ist Schluss. Jeder andere kann verrecken. Gibt eh zu viele davon.

Welcome back to India.

PS: Times of India schreibt: Die Wahlbeteiligung bei den Lok Sabha-Wahlen (Die Wahlen für das Unterhaus des indischen Parlaments) am Donnerstag betrug trotz aufwendiger Kampagnen zur Wahlbeteiligung in Pune gerade einmal 40,6 Prozent – die niedrigste im Laufe der Geschichte der 15 Wahlen seit 1952.

Mehr als 1 Million Wahlberechtigter der insgesamt 1,8 Millionen Wahlberechtigten für Pune zogen es vor, von ihrem verfassungsrechtlich garantierten Recht, zu wählen und damit die Zukunft ihres Landes zu bestimmen, keinen Gebrauch zu machen.

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11 Responses to “Back in India. Update.”

  1. Kerstin says:

    …und leider fuehrt dieses “nur an sich selber denken” u. a. dazu, dass sich dieses Land bezueglich Korruption so schnell nicht veraendern wird. Es ist immer leicht zu behaupten, es aendert sich ja doch nichts. Wenn alle so denken – und das tun viele – aendert sich natuerlich wirklich nichts. Denn von alleine kommen Veraenderungen nunmal nicht in’s Haus geschneit, dafuer muss man schon etwas tun. Genau diese Stoigkeit macht mich wahnsinnig in diesem Land.

    Diese Herzlosigkeit anderen Menschen gegenueber werde und will ich nie verstehen. Ich dachte immer, dass Menschen in Armut naeher zusammenruecken, da hat mich Indien aber leider eines Besseren belehrt….

    Also welcome back….Mir steht der krasse Unterschied in einer Woche bevor und ein bisschen Bammel habe ich schon davor, muss ich leider sagen.

    LG
    Kerstin

  2. jules says:

    Hallo Kerstin,

    schön, von Dir zu hören: Mein Erlebnis auf der Straße hat mich sehr an Deines, den Motorradunfall, erinnert. Als ich davon bei Dir las, war ich auch richtig geschockt, zumal ich in Deutschland selbst Motorrad gefahren bin und auch schon mal einen (unverschuldeten) Unfall hatte. Schrecklich!

    Was mich ganz fertig macht ist die ungeheure Härte hier. Ich bin nicht gläubig erzogen worden, aber trotzdem meint man doch, jeder Mensch müsste aus sich heraus, weil er ein Mensch ist, MITGEFÜHL empfinden können und sich in die Lage anderer versetzen können. Nicht so in Indien, da wird weitergefahren, egal, ob man jemanden erwischt hat, oder nicht.

    Bitter.

    Und was mich ebenso nervt ist die ungeheure Scheinheiligkeit: Da wird den ganzen Tag über eine Puja nach der nächsten abgehalten um sich göttliches Wohlwollen zu sichern, aber wenn es dann um die Grundbegriffe von Nächstenliebe oder Mitmenschlichkeit geht, ist da in 99 % der Fälle nichts, gar nichts. Was ist dann die ganze Frömmelei wert, wenn´s nicht mal dafür reicht?

    Liebe Grüße

    Julia

    PS: Ich wünsch Dir eine sanfte Rückkehr mit SCHÖNEN Eindrücken, damit der Start hier nicht so hart wird. Genieß Deine verbleibende Zeit in D – ich sehe, Ihr habt hervorragendes Wetter!

  3. tomX says:

    Hallo Ihr beiden. Ich lese gerade, Ihr seid zurueck. Ersteinmal ein welcome back. Ich freue mich auf das anstehende Wochenende. Dann werde ich Zeit finden, mich Euren Erfahrungen aus und Gedanken zu einem Land, welches so ganz anders ist als Eure derzeitige Heimat, widmen zu koennen. Ich muss Euch hoeren, ich muss Euch sehen, ich muss Eure Gedanken teilen. Schnellst moeglich.

  4. anja says:

    ich hab gestern gerade mit meinem indischen besuch über das thema wahlen geprochen. sie sieht das ein wenig anders und glaubt,durchaus einen wandel zu sehen in den köpfen der sogenannten gebildeten mittelschicht. vielleicht geht diese veränderung eben doch in kleinen schritten vorwärst..? sie glaubt, dass die anschläge in mumbai etwas in den köpfen in bewegung gesetzt haben und das jetzt mehr leute wählen gehen werden. weil es sich eben doch lohnt…:roll:

    und zu kerstins kommentar fiel mir noch ein: ironischerweise sind wir westler in den augen vieler inder “herzlos und egoistisch”…aber eben aus einer anderen perspektive. zb im bezug auf dem umgang mit seinen alten eltern oä.
    und ja: doppelmoral lässt mich regelmäßig aus der haut fahren! 😡

    ich hoffe trotzdem, dass du dich bald wieder einfindest und dass es kalu bald besser geht…
    lg anja

  5. Kerstin says:

    Hallo Julia und Anja,

    ja, diese Scheinheiligkeit macht mich ebenso wahnsinnig und sprachlos. Ich denke, die sogenannte Menschlichkeit findet nur im eigenen kleinen Kosmos, der Familie, statt. Alles andere ist egal, die Gesellschaft, das Land, die Menschen, das sind einfach nur Fremde und die haben keinen Platz im kleinen Kosmos. Und dies fuehrt aus meiner Sicht zu einer gewaltigen Ignoranz dem eigenen Land und der eigenen Gesellschaft gegenueber, in der jeder nur an sich denkt.
    In Deutschland dagegen wurde uns der Weitblick beigebracht und dass JEDES Leben wert ist, gerettet zu werden. Aber vielleicht ist es ja, wie Daniela es schon mal sagte, Leben gibt es in Huelle und Fuelle in Indien und da kommt es auf eins mehr oder weniger auch nicht mehr an. Wenn es so sein sollte, dann finde ich das traurig und zynisch, hilft mir allerdings auch, dieses Land zu begreifen.

    Bezueglich Puja, lieber betet man stundenlang anstatt mit weltmaennischem Blick an verschiedene Dinge heranzugehen. Ist ja auch einfacher, irgendeinem Gott die Schuld in die Schuhe zu schieben, so dass man hinterher immer sagen kann, Gott hat es so gewollt.

    Ich habe auch die Hoffnung, dass die gerade heranwachsende Generation versteht, dass sie etwas gegen bewegen koennen in ihrem Land, wenn sie denn die Chance (die Wahl) ergreifen. Mal sehen, wenn ich zurueckkomme, wieviel aus meinem Team gewaehlt habe.

    Danke fuer die Wuensche, liebe Julia, ich geniesse im Moment jede Minute, jede Stunde und hoffe, ich habe genug Kraft getankt fuer die kommenden Indien-Monate.

    LG
    Kerstin

  6. anja says:

    mir ist gestern ein video in die hände gefallen…es hat jetzt nicht direkt was mit den indischen wahlen zu tun, aber mit der einstellung und ich fragte mich, ob die art von denken in indien vorstellbar ist..? eine sehr linke denkweise eben.

    http://www.youtube.com/watch?v=F10tP5HIpaA

    lg anja

  7. jules says:

    Hallo Anja,

    finde den “redemption song” sehr schön, den Du gepostet hast, aber war das das Video, das Du posten wolltest?

    😉

    LG!

  8. anja says:

    ja, er spricht doch am anfang davon, dass “people” sich ihrere macht bewusst sein können, dass sie etwas bewegen, verändern können. fand ich im bezug auf die indischen wahlen und die noch viel mehr als verbereite “bringt doch eh nix”-einstellung sehr passend!

  9. Falk says:

    Liebste Julia,

    die paar intelligenten Inder können gegen die Macht der ungebildeten mit Abstand absoluten Mehrheit nichts ausrichten. Das ist der Nachteil einer Demokratie.

    Zusätzlich hat die Zentralregierung das Problem, irgendwie die Interessen aller Inder unter einen Hut zu bekommen. Wenn man den Freunden in Sri Lanka mal vier Wochen helfen würde, ihr Tigerproblem entgültig und abschließend in den Griff zu bekommen, würde der Süden Indiens auf die Barikaden gehen, etc. Jetzt bauen sich die Chinesen da unten einen Hafen und man hat einen richtig ernst zu nehmenden Feind direkt vor der Haustür.

    (All das habe ich mir heute beim Mittagessen von drei eher hoch gebildeten Indern erklären lassen)

    Aber dass eine große Zentralregierung erfolgreich nicht funktioniert, demonstriert uns das Europaparlament ja auch seit 20 Jahren.

    Soo sieht das aus! Falk

    PS.: Alter Spontispruch: Wenn Wahlen etwas ändern könnten, wären sie schon längst verboten

    PPS.: Meine Angestellten wählen zumeist den Kandidaten, der ihnen ein Flasche Schnaps bezahlt – so geschehen bei den letzten Kommunalwahlen

  10. jules says:

    Hallo liebster Falk,

    zu allen Punkten: Leider. Leider. Leider.

    Liebe Grüße!

  11. Daniela says:

    Hallo Julia,

    Ich kann die geringe Wahlbeteiligung auch nicht nachvollziehen. Vor allen Dingen nicht, nachdem gerade mal vier, fünf Monate zuvor dieselbe Intelligenzia große Reden geschwungen hat (nach den Anschlägen in Mumbai).

    Aber was ich noch viel weniger verstehen kann, ist die heutige Interpretation von “Demokratie”. Das heißt nämlich nicht, dass der Bürger mal kurz wählen geht und dann die Verantwortung abgibt, und lästern und sich aufregen darf, wenn es nicht klappt und sich ulkige Spontisprüche ausdenkt. Ich glaube, das Volk macht es sich da viel zu einfach.

    LG
    Daniela