…sind so kleine, starke Hände.

Pune, 11.30 Uhr an einem beliebigen Morgen, an einer beliebigen Kreuzung, Rush-Hour. Etwa 40, 50 PKWs, Laster und Piaggio-Dreiräder mit Lastenaufbau oder Bajaj-‘Autos‘, die legendären offenen Rikshas, kommen ächzend an der roten Ampel zu stehen; Shabundin und ich werden in unserem PKW schnell überholt von einer Hundertschaft Motorräder, die sich durch alle verfügbaren Lücken in die Pole-Position drängeln, die erste Reihe beim Anfahren.

Aus dem Augenwinkel sehe ich sie in Position laufen, humpeln oder langsam gehen: Die ragged people von Pune, zerlumpte Gestalten mit verfilzten Haaren, manche verkrüppelt, viele jung, zum Hungern viel zu schön, aber, und das unterstelle ich, bewusst ungepflegt, um einen bedürftigen Eindruck zu machen. Sie sind auf der Suche nach ein paar Rupien, gegeben von Menschen, die in diesem Moment der Not der Anderen, der Vielen, nicht ausweichen können.

Ein leises Klopfen an der hinteren linken Scheibe neben meinem Kopf reisst mich aus meinen Gedanken: tapp, tapp und dann wieder: tapp, tapp. Ich blicke auf und sehe eine schmutzige kleine Kinderhand neben dem Fenster, die zu einem schmutzigen kleinen Gesicht gehört, der Rotz der ungeputzten Nase hängt auf der Oberlippe des Jungen, der, als ich hochgucke, den Kopf mit einem indischen Nicken zur Schulter neigt: Die Finger seiner Hand legen sich um eine Handvoll imaginären Reis, den er in bittender Geste zum Munde führt.

Doch ich blicke weg. Schaue stur geradeaus, zwischen den beiden Vordersitzen hindurch, blicke auf Shabundin´s Hinterkopf und durch die Frontscheibe auf das Spektakel der Straße, wo zehn oder zwanzig Bettler hyänengleich die wartenden Autos und Rikshas umkreisen um abzukassieren.

Ich bin hart geworden nach neun Monaten Straßenalltag in Indien, auch wenn ich mich dafür hasse. Ich würde gern jedem Einzelnen von ihnen zuhören, jedem Einzelnen von ihnen helfen – wenn ich nicht das Gefühl hätte, dass es darauf gar nicht ankommt. Was die Jungen und Mädchen hier betreiben, oder die jungen Frauen mit ihren mitleiderregenden (Leih?)-Babys auf dem Arm mag Not sein, aber mindestens ebenso einträgliches Geschäft. Es ist Nötigung, und Erpressung, und ich lasse mich nicht gern erpressen. Also blicke ich stur geradeaus und fühle mich schlecht dabei.

Die Retourkutsche kommt prompt: Aus dem leisen Tapp, Tapp wird ein lautes, kratzendes Klopfen, als der Junge mit den Fingernägeln seiner beiden Hände gegen das Fenster schlägt. Jetzt ist sein Klopfen keine Bitte mehr und auch die unterwürfige Demut ist verschwunden: Forderung und Wut und Ohnmacht sind an ihre Stelle getreten und ich kann es ihm nicht verdenken.

Klopf, Klopf. Klopf, Klopf. Es ist mein Gewissen, das da an die Scheibe klopft und jedesmal, wenn ich meinen Kopf abwende, ist es Sieg und Niederlage zugleich: Niederlage, weil mein Herz so gerne geben würde, Sieg, weil ich den Erpressungsversuchen der Bettler-Mafia erfolgreich widerstanden habe.

Ich weiß nicht, wie es dem Kleinen wirklich geht: Bettelt er aus wirklich aus Not? Ist es nur eine Masche? Zwingt seine Großfamilie ihn dazu, oder, schlimmer, ein Zuhälter? Sind seine Mutter oder sein Vater verdammt noch mal zu faul dazu, zur Arbeit zu gehen? Irgendwas, meinetwegen auf dem Bau, wie es in Boomtown Pune unproblematisch möglich ist, wie ich täglich überall sehe? Ist die Bettelei einträglich? Oder die Ultima ratio ohne Alternative?

Dann zählt der Sekundenzeiger an der Ampel die letzten zehn Sekunden herunter. Die ersten Autos fangen ungeduldig an zu hupen, man fühlt die gestaute Energie der gefangenen Insassen und ihrer lauernden Vehikel – bis sich schließlich der Schwall der erleichterten Fahrer auf die freigewordene Straße ergießt und sich die Bettlermeute kontrolliert an den sicheren Straßenrand zurückzieht.

Bis zur nächsten Ampel. Bis zum nächsten Elend.

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6 Responses to “…sind so kleine, starke Hände.”

  1. Kerstin says:

    Hallo Julia,

    auch mir geht es nach fast 2 Jahren Indien genauso, ich ignoriere sie, passe mich also an. Den einzigen Menschen, denen ich ab und zu etwas gebe, ist alten Menschen, die (zumindest fuer mich) offensichtlich nicht arbeiten gehen koennen und/oder verkrueppelt sind. Aber bei Kindern schrillen bei mir immer die Alarmglocken, zumal ich beobachten kann, wie nach unerfolgtem Betteln zu ihrer Sippe zurueckgehen und mit den Schultern zucken (nichts bekommen…).

    Von daher ist Deine Devise, arme Menschen z. B. bei Dir arbeiten zu lassen, aus meiner Sicht viel effektiver, weil die Hilfe wirklich dahingeht, wo Du sie haben willst.

    Wie in meinem Blog schon geschrieben, denke ich diesbezueglich etwas anders, wir unterstuetzen dafuer unsere Securitiy-Leute, die desoefteren Extra-Arbeiten fuer uns unternehmen und dafuer bezahle ich sie auch extra.

    Von daher finde ich die letzten Punkte (Du auf Deine Weise, ich auf meine Weise) wirkungsvoller und irgendwie auch ehrlicher. Und mal ehrlich, wir retten nicht die Welt, indem wir ein paar Bettlern Geld geben, das sie in was weiss ich dann umsetzen.

    Also mach Dir keine Vorwuerfe, das Abstumpfen ist normal und menschlich, auch hier machen wir Europaeer uns mal wieder viel mehr Gedanken als die eigenen Landsleute.

    LG
    Kerstin

  2. Daniela says:

    Hallo Julia,

    das Thema wurde sehr realistisch in Slumdog Millionaire aufgegriffen. So und nicht anders. Die Bettler an jeder grossen Kreuzung zahlen allermindestens an die Polizei, sonst muessen sie naemlich weg. Sie werden regelmaessig gefilzt. Wir haben jetzt auch einen neuen Fussweg bereits komplett besetzt mit Familien – Neuankoemmlingen in Mumbai. Die gehen dort nie wieder weg. Die Erwachsenen schlafen den Tag ueber auf dem Gehweg, einige Frauen kochen, und die Kinder rennen bei den Rotphasen auf die Strasse zum Betteln. Dahinter muss nicht unbedingt eine Mafia stecken, aber es ist dasselbe Prinzip.

    Du solltest dir immer in Erinnerung rufen, dass diese Menschen – so ehrlich und aufrichtig ihre Armut auch sein mag – nicht deine Verantwortung sind. Du schadest dir mit dieser Selbstbestrafung, und du schadest auch denen um dich, denn du kannst denen weniger geben, wenn du deine Energie auf der Strasse verschenkst. Du tust so viel in deinem Leben, dass du vollstaendig frei von Vorwuerfen leben kannst. Da muessen sich ganz andere LEute an die Nase fassen.

    LG
    Daniela

  3. anja says:

    ich weiss bis heute nicht, wie ich damit umgehen konnte, jeden tag. hab auch keinem was gegeben und mich ständig schlecht deswegen gefühlt (verdammtes europäisch sozial geprägtes gewissen!!)…aber dani hat recht, wir können weder allen helfen, noch liegen sie in unserer verantwortung. hilft einem im alltag trotzdem nicht fiel… ❓

  4. jules says:

    Hallo, Ihr Drei!

    Kerstin, Du hast sicherlich recht damit, dass wir uns mal wieder mehr Gedanken als die Inder machen. Trotzdem: Manchmal erschüttert mich meine Härte, meine Unerbittlichkeit. Mein Gott, es sind Menschen, die da ihre Hände nach mir ausstrecken, keine Gestalten aus einem Kinofilm, die man nach zwei Stunden (oder 2 Minuten) wegzappt, weil man genug von ihnen hat. That´s life, real life, und ich glaube nicht, dass ich meine sentimentale Mitleidsbrille aufgesetzt habe, wenn ich mich frage, warum ich Arschloch von weißem Europäer nicht einmal ein paar Rupien übrig habe, wenn das Elend an meiner Tür kratzt.

    Aber: 1. Ich lasse mich nicht gern erpressen, wie gesagt, und 2., und das hat Daniela schon einmal angesprochen, es ist die schiere Masse der Bedürftigen, die mich so ohnmächtig und manchmal auch wütend macht, dass ich dicht mache und genervt weggucke. Manchmal komme ich mir vor, als sei ich in einen Schwarm Moskitos geraten und auch die wedelt man weg, einfach weil es zuviele sind und sie einem auf den Geist gehen. Einem einzelnen würde man ja auch mal Blut spendieren, aber Hunderten, und nach ein paar Wochen, Tausenden?

    Vielleicht werde ich jetzt für diesen Vergleich gesteinigt: Wie kann man so unverschämt sein und Menschen mit Moskitos vergleichen und doch ist es so – es sind zuviele, und das ist ihr Pech. Irgendwann ist man nämlich einfach erschöpft.

    @ Daniela: Wir haben hier in Pune eine regelrechte Mafia. Das kann man mühelos daran erkennen, dass manche, sehr glücklich und wohlgenährt aussehende Verstümmelte auf kleinen Rollbrettern immer an bestimmten Ecken der Stadt sitzen um zu betteln, immer auf einem Haufen und immer an sehr einträglichen Stellen. Einen davon nenne ich fast einen “Freund”, denn er sitzt immer vor einem Geschäft, in dem ich häufig einkaufe und ich grüße ihn freundlich und er mich, ohne mich anzubetteln. Die kennen ihre ‘regulars‘, also Leute, bei denen sie nicht mitleiderregend gucken müssen, weil sie wissen, dass sie eh nix bekommen. Und dann sind sie ganz entspannt. Wir freuen uns, wenn wir uns sehen, respektieren uns und wünschen uns gegenseitig einen schönen Tag, so in etwa.

    Dass er zu einer Art Mafia gehört, kann man auch daran sehen, dass er wundersamerweise einen Schnelltransport von einem ergiebigen Ort zu einem anderen hat: irgendjemand, und das wird nicht die selbstbezahlte Riksha sein, transportiert nämlich meinen lächelnden Freund SEHR schnell von einem Ort zum anderen, d.h. es muss irgendeine Logistik dahinterstecken, er ist also organisiert unterwegs, aber er scheint nicht traurig darüber zu sein. Und das beruhigt mich: Wenigstens manchen von ihnen scheint es gut zu gehen, auch unter von uns unvorstellbaren Umständen.

    Und, natürlich sind diese Menschen und ihr erbarmungswürdiges Leben nicht meine Verantwortung, aber es sind doch immerhin Menschen und ich kann mit ihnen fühlen, wenn ich es zulasse. Und dann tut meine Härte MIR weh, weil ich sozusagen als Angehöriger der Kategorie Mensch gegen die Anderen handele.
    Aber keine Angst, meine Selbstverurteilung (nicht: Bestrafung) geht nicht so weit: Es erwischt mich meistens in dem Moment, in dem ich weggucke: Und dann fühle ich mich schlecht, einen Moment lang. Nicht generell, denn auch ich bin nicht Mutter Theresa, auch wenn ich wünschte, die Verhältnisse wären anders und ich könnte helfen, substantiell helfen.

    Aber, und auch da gebe ich Dir recht: Da müssen andere heran. Mit Macht, und mit einem politischen Instrumentarium, das Hand und Fuß hat. Leider schwer zu finden, weltweit.

    PS: Guck mir Slumdog Millionaire morgen an – bin gespannt!

    @anja: Ich wünschte, es wäre anders. Wüsste gern, wohin mich mein Herz (und mein Verstand) hier noch führen. Vielleicht werde ich es irgendwann anders halten, wer weiß.

    Liebe Grüße an Euch alle,

    J.

  5. sarangiji says:

    Wie hast Du’s mit den Händen gehalten…
    wem gehörten die? Einem Fremden Bettler oder einem “Mafiosi”, den Du kanntest?
    Die Fotografie ist jedenfalls stark! Diese Hände: zerklüftet und geschwollen von harter Arbeit; die Haut wirkt teils wie eine dicke Elefantenhaut, teils so wie unbeholfen über ein unnachgibiges Gerüst gespannt: ein bisschen mehr ziehen und sie bricht in den Kerben auseinander.
    Zerschunde und hilflose Hände.
    Schon die Hände erregen Mitleid, man darf gar nicht so genau hinsehen.
    Aber die Kamera ist unerbillich.

    Andreas

  6. jules says:

    Hallo Andreas,

    die Hände gehören einem alten Bettler, der sie uns und das für uns leider unverständliche Ausweispapier(?) entgegengestreckt hat. Ja, diesen Händen sieht man das harte Leben an. Und nicht die Kamera ist unerbittlich, sondern das Leben!

    Freut mich, dass Dir das Foto gefällt. Du weißt schon, dass sich mit Klick auf die Fotos selbige vergrößern?

    LG
    Julia