This is what India is about

Manoj hatte mich gewarnt: “Tomorrow, Madam, you won‘t get anywhere in Pune – all the streets are going to be jam packed! There‘s going to be a big palkhi.” Ich fragte nach: Was ist denn so ein palkhi? Wem zu Ehren? Und warum? Manoj murmelte etwas von Sant Tukaram, ich dachte: “Häh?” Er konterte mit: “Someone like Sai Baba!” Das verstand ich. Sai Baba ist einer von Indiens berühmtesten selbsternannten Heiligen, ein Wundertätiger.

Aber lebte denn dieser Tukaram noch, kam er persönlich, oder was rechtfertigte den zu erwartenden Menschenauflauf? “No, no, he‘s dead”, sagte Manoj und schüttelte den Kopf. Ein Palkhi könne man nicht erklären, das sei eben ein Palkhi, es gebe nichts Vergleichbares in der westlichen Welt. “Dann müssen wir dahin, Manoj!”, sagte ich und erntete ein zweifelndes Lächeln von der Fahrerseite. Ich sah zufrieden und ein wenig selbstgefällig aus dem Fenster: Das wird schon nicht so schlimm sein, dachte ich mir, eben eine der üblichen indischen Übertreibungen.

Der nächste Nachmittag kam und mit ihm die Gelegenheit, U. von der Arbeit abzuholen. Sicherheitshalber hatte ich die Kameras, eine Flasche Wasser und zwei Bananen eingepackt – Man weiss ja nie. Ergänzend muss an dieser Stelle gesagt werden, dass U.‘s Büro gerade einmal neun Kilometer entfernt liegt, eigentlich peanuts, die Entfernung.

Wir kamen zweihundert Meter weit. In zwei Stunden. Nichts bewegte sich. Manoj grinste selbstzufrieden, ich verzog mich hinter die ausgebreiteten Seiten der “Indian Express”. Und grinste auch. Heerscharen weißgewanderter Pilger blockierten in großen Zügen alle Einfallstraßen Punes, große orange Stoffbanner schwingend und laut singend. Abwechselnd als Koch-, Schlaf-und Rastplatz genutzte Lastwagen mit allem Hab und Gut der Pilger säumten die Straßenränder, erschöpfte Pilger davor, dahinter, und darauf.

Ich rief U. an: “Du musst Dir einen anderen Transport überlegen, wir schaffen es heute nicht mehr zu Dir”. Dann kam die Gelegenheit, beizudrehen, die Gegenspur war frei! Zurück schafften wir die zweihundert Meter in zehn Minuten, dann schnappte ich mir mein Fahrrad und strampelte in weiteren 15 Minuten durch Abgasschwaden der stehenden Autos ins Zentrum der 700.000 Menschen zählenden Versammlung.

Schließlich erfuhr ich auch den Grund für das Chaos: Jährlich strömen bis zu 400.000 Menschen zur “Ashadi Ekadashi Wari”, einer Art Wallfahrt über eine Strecke von 130 Kilometern, die unter anderem zu Ehren eines der großen Poeten Maharashtras, Sant Tukaram, abgehalten wird. Aha. Nur dass es dieses Mal ein besonderes Datum war: Sant Tukaram wurde nämlich vor genau 400 Jahren, also 1608, geboren. Deshalb die 700.000 Gläubigen, deshalb die blockierten Straßen, deshalb das Chaos.

Aber: Was für ein Herz! Stellt Euch mal vor, bei uns würden am vierhundertsten Geburtstag von, sagen wir z.B. mal Shakespeare, so viele Leute auf die Straße gehen, mit nackten Füßen über hunderte von Kilometern im Matsch pilgern, mit einer Handvoll Reis zu Essen und einem Schlafplatz auf nackter Erde, nur um dem Genie eines großen Mannes zu gedenken, ihn zu Ehren, ihn zu feiern – Ohne Alkohol, ohne Shit oder andere seligmachende Drogen, nur gefeuert von der eigenen Hingabe, der eigenen Liebe zu einem der Großen von Ihnen, der es gewagt hat, als Shukra, also einem Angehörigen der untersten Kaste, religiöse Gedichte in Marathi zu schreiben, und der damit die Volksseele nährte, die sonst darbte, denn Gedichte, mein Gott Schreiben, war damals allein den Brahmanen vorbehalten, die ihn dafür hassten. Das Volk aber liebte ihn. Und liebt ihn noch heute, glühend. Unglaublich. That‘s India.

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