Von der Notwendigkeit, allein zu sein.

Großer Seufzer der Erleichterung. Endlich wieder zu Hause. ALLEIN. Das erste Mal seit fünf Wochen. Nicht, dass ich meine Freunde nicht mögen würde, ich mag sie sogar sehr. Aber ich bin nun mal nicht geschaffen für dauerndes Zusammensein mir anderen. Nicht mal mit meiner lieben Mutter oder einigen meiner besten Freunde.

Ich werde unleidlich, wenn ich mich nicht zurückziehen kann, allein sein kann. Dauerndes Reden strengt mich ungeheuer an und das, was mich ausmacht, meine Kreativität, meine Nähe zu mir selbst, wird immer schwächer. Das geht soweit, dass ich nicht mehr schreibe, weil ich letztlich keinen klaren Gedanken mehr fassen kann, wenn dauernd jemand um mich herum ist.

Nicht, dass T. und R. nicht die besten, rücksichtsvollsten, anspruchlosesten Gäste gewesen wären, die ich mir vorstellen kann. Meine Situation hat deshalb auch nichts mit ihnen zu tun – es ist eine rein persönliche Angelegenheit. Aber ich habe für mich festgestellt, dass ich meine Tage am kreativsten, am sinnvollsten und am stimmigsten verbringe, wenn ich allein bin. Erst dann wird es still in mir, und ich liebe diese Stille. Wenn die Gedanken durch die Stille Klarheit gewinnen oder zur Ruhe kommen fängt für mich ein erfülltes Leben an.

Am schlimmsten am Zusammensein mit Menschen finde ich ihre dauernden Werturteile. Mir reichen da schon meine eigenen, von denen ich wegzukommen mich bemühe. Es vergeht kaum eine Minute, in der etwas nicht als schön gelobt oder als schlecht verurteilt wird. Diese dauernde Dualität macht uns alle aus und hält uns alle gefangen. Sie versklavt uns, weil sie uns so abhängig von den äußeren Umständen macht. Beurteilen wir die jeweilige Situation als gut, fühlen wir uns wohl. Finden wir sie schlecht, versuchen wir, ihr zu entkommen. Dabei bleibt aber das, was wir als gut empfinden, beileibe nicht immer gleich: Denselben Sonnenschein können wir an einem Tag als angenehm, an einem anderen als lästig empfinden. Blödsinn.

Ich möchte manchmal einfach sagen (und sage das häufig zu mir): “Mensch halt doch mal die Klappe und sei einfach zufrieden. Weil Du lebst. Und das allein ist schon das große Wunder.” Aber dann verkneife ich mir das natürlich bei anderen, weil es ihre Entscheidung ist, wie sie ihr Leben verbringen wollen. Und wenn sie so gern an ihren eigenen Urteilen leiden wollen, bitte.

Vielleicht ist es das, was ich am Zusammensein mit Tieren so mag: Sie reden nicht dauernd. Und deshalb reden sie auch keinen Unsinn. Sie bringen zwar deutlich zum Ausdruck, wie sie sich fühlen, aber sie kreisen nicht so darum, wie wir.

In Hape Kerkelings Buch ‘Ich bin dann mal weg‘ zitiert er eine englische Freundin von ihm, die ein halbes Jahr in Dharamsala gelebt hat und dort Englisch unterrichtet hat. Im Austausch dafür wurde sie von einem tibetischen Rinpoche, also einem fortgeschrittenen Lehrer in tibetischem Buddhismus unterrichtet. Hape fragt sie irgendwann, was das Wichtigste gewesen sei, das sie dort gelernt habe. Sie antwortet ihm mit einem , wie ich finde, wichtigen Satz, der aus genau drei Worten besteht: “Drop the thought.”

Großartiger Satz, großartige Lehre. Trotzdem, weil ich natürlich auch nur so ein Greenhorn auf dem Weg bin, freue ich mich heute, in aller wiedergewonnenen Stille, über die beste Nachricht seit langer Zeit: Obama wird US-Präsident. Ich bin eben auch nicht frei von Werturteilen.

P.S.: An T. + R.: Ich hoffe, Ihr kommt trotzdem wieder: Ihr seid großartige Freunde UND großartige Gäste.

Tags: , , ,

6 Responses to “Von der Notwendigkeit, allein zu sein.”

  1. Andreas says:

    Hallo Jules,

    nach dem von Dir Geschriebenen fragt man sich, ob man noch Kommentare senden darf, da sie ja eigentlich auch Deine Ruhe stören, da sie Werturteile sind. Aber nein! Kommentare und Kommentatoren kann man wegschalten, Freunde und Gäste eben nicht.

    Halt! Click mich nicht weg, ich bin noch nicht fertig! Das war provozierend. Will ich eigentlich nicht.

    Du schreibst eigentlich nicht, um Werturteile zu erhalten, sondern Du schreibst Dir von der Seele, richtig? Mit dem Scheiben fixierst Du Deine Impressionen, definierst Deine Meinung.

    Hey, ich bin ähnlich wie Du, auch ich liebe die Stille, weshalb meine Frau schon oft mit mir schimpft, dass ich mich zu oft in mein Arbeitszimmer zurückziehe.
    In der Stille kann man überlegen, die Gedanken sortieren.
    Mit Freunden muss man immer geistig präsent sein und sagt vielleicht auch mal etwas Unüberlegtes.

    Aber man braucht beides, obwohl letzteres (in der – dauernden – Diskussion) anstrengender ist. Durch die anderen bekommt man wertvolle Impulse. Man muss sich in beidem üben und vielleicht auch dazu zwingen – alleinsein und Gruppe – , sonst wird man zum Einsiedler. Denn das Internet ersetzt die anderen nicht.

    Das Internet ist eine wertvolle Bereicherung, so auch Deine Beiträge. Danke.

    LG
    Andreas

  2. Jeannine says:

    Hallo Jules,

    ich lese deinen Blog schon einige Zeit, habe mich aber nie zu Wort gemeldet. Jetzt ist es soweit! 😉

    Ich kann so mit dir mitfühlen! Mir geht es ganz genauso.

    Allerdings verstehen das die meisten Menschen nicht und sind oft ganz irritiert, wenn ich ihnen erzähle, dass ich gerne öfter mal allein bin. Selbst wenn ich jetzt nichts großartig mache wenn ich alleine bin, brauche ich doch die Zeit zum “denken und sinnieren”.

    Ich im Gegenzug verstehe die nicht, die ständig das Haus voll haben, oder ständig in Partylaune sind.

    Im kurzen und ganzen kann man sagen:
    Man fühlt sich geitsig völlig erdrückt, oder eingeengt!

    Vielleicht kommt dir das ja bekannt vor?! 😉

    Auf jeden Fall wünsche ich dir ein paar Tage für dich!

    Und freue mich auf neue Blogeinträge von dir.

    LG
    Jeannine

  3. Daniela says:

    Als meine Familie drei Wochen bei uns war, war mein Onkel so lieb, die Situation an einem Tag der Grieskrämigkeit zusammenzufassen: “Gäste sind wie Reste: schlecht nach drei Tagen”. 🙂

  4. jules says:

    @ Jeannine:

    Ich kann das, was Du beschreibst, völlig nachvollziehen. Genauso geht es mir auch – ich brauche Zeit und Muße, um zur Ruhe zu kommen, ich selbst zu sein. Man muss nicht immer irgendetwas machen, das Gegenteil ist meines Erachtens der Fall: Stille erleben ist ein großes Geschenk. Ich freue mich, dass Du Dich ein Stück weit bei mir wiederfinden kannst. Mach weiter, auf Deinem unkonventionellen Weg!

    LG

    Julia

  5. anu says:

    Ich kann es auch nachvollziehen. Vor allem, wenn man den ganzen Tag damit beschaeftigt ist seinen Gaesten Indien zu erklaeren.
    Ich mach das ja auch als Job. Das mach ich echt gerne, ist ab heute nachmittag wieder so weit. Das macht Spass, aber auch nur weil mir die Leute eigentlich fremd sind und ich Ihnen nicht meine persoenliche Situation dalegen muss.

    lg
    anu

  6. jules says:

    Hallo Anu,

    als Job fände ich das auch klasse. Für wen machst Du das denn? Für ein deutsches Reiseunternehmen?

    Hab sogar schon mal darüber nachgedacht, in Pune eine Beratungs-Agentur aufzumachen, weil es meines Wissens nach nichts Derartiges gibt. Es kommen so viele Europäer und Amerikaner hierher, um hier zu arbeiten und zu leben. Bei denen sind natürlich viele Fragen offen, wenn sie ankommen. Klar werden sie hier von indischen Agenturen betreut, die ihnen die Wohnungen zeigen und mit Maklern zusammenarbeiten, aber das ist nicht das gleiche. Vielleicht mach ich das noch, mal sehen.

    Viel Spaß mit Deinen Gästen, die sicherlich kulturell sehr interessiert sind, das ist ja auch fein.

    LG
    Julia