Just a thought…(Update)

Ich weiß nicht, wer die Nina ist, die vor einiger Zeit hier in der ZEIT über ihr Leben in Indien gebloggt hat und das spielt an dieser Stelle auch keine Rolle.

Aber ich finde ihre Beschreibung des Gefühls-Mischmaschs, den jeder erlebt, der sich länger mit dem Land, diesem riesigen Subkontinent auseinandersetzt, auseinander zu setzen hat, weil er in ihm lebt, sehr treffend. Um eine Platitude zu zitieren: Indien ist das Land der Gegensätze (‘Unity in diversity‘) und, was ich daran witzig und bemerkenswert finde, ist: Es ist das Land der Gegensätze IN DIR. Indien lässt einen nicht kalt, weil es Dir dazu keine Gelegenheit gibt. Sobald Du Deine mehr oder minder gesichterte Fluchtburg verlässt, bist Du da draussen und Deinen Eindrücken ausgeliefert. Es sei denn, Du schließt auf die Dauer die Augen, aber dann wärst Du tot.

Nun, was ich so bemerkenswert und herausfordernd an Indien finde, ist, dass es Dich täglich, stündlich, minütlich, auf den Prüfstein stellt, weil es Dich mit den krassesten Bildern versorgt, die Du Dir nur vorstellen kannst, und diese Bilder sind Menschenleben. Es sei denn, Du befindest Dich inmitten eines Bürgerkriegs, aber selbst den kannst Du in Assam und Orissa anstrengungslos erleben.

Ein Beispiel: Ich stehe neulich nichtsahnend in einer ganz normalen Pendler-Schlange an dem Ticket-Schalter der Mumbai-Central-Station, als ich ein unnatürliches Gewimmer höre. Es ist kein irdischer, oder – je nach Betrachtung- ein zutiefst irdischer Laut, der leise an mein Ohr dringt, es ist ein kaum wahrnehmbares, intervallartiges, leises Geheul, einem verletztem Tier nicht unähnlich. Ich gucke nach links und entdecke einen etwa zwölfjährigen Jungen, zusammengesackt zwischen den Passagier-Schlangen an den Schaltern der Pendlerzüge. Er hat frische Wunden im Gesicht, die nicht bluten, obwohl verkrustetes Blut seine Wunden umgibt, eher so etwas wie dicke Striemen, die über die linke Wange und seine Brust laufen, und seine klauenartig verkrümmte Hand greift konvulsutionsartig an seinen mageren Hals, holding it, holding it, weil das, was er erlebt hat zu schrecklich ist, um es zuzulassen: Er kann nicht schreien, obwohl er müsste, schreien sollte, so laut er kann. Aber er ist verstummt. Stumm greift seine Hand immer wieder hilflos an den Hals,seine Augen gleiten von den Passagieren ab ins Nirgendwo, ein Schrei, der keinen Weg findet. Vor ihm sammelt sich ein Berg Rupien-Scheine, aber das interessiert ihn nicht mehr- was er erlebt hat, erlebt haben muss, liegt außerhalb meines Horizonts, und sicher außerhalb dessen, was Bettler aufführen, um Mitleid zu erregen. Doch der Kleine ist nicht bei Bewusstsein, obwohl er nicht ohnmächtig ist. Ich kann an seinem Gesicht ablesen, dass er etwas erlebt hat, was ihm seine Seele geraubt hat. Er ist bei Bewusstsein, aber er ist nicht mehr da.

Ich schwanke: Mein erster (und sicherlich richtiger) Impuls ist es, ihn in den Arm zu nehmen – ich habe noch nie einen schlimmer zugerichteteten Menschen gesehen, doch dann gewinnt meine Ratio die Überhand: Was soll ich ihn fragen, was ist ihm geschehen? Ich kann kein Marathi, kein Hindi – Wie kann ich ihm helfen?

Also lasse ich es, wie alle anderen Hundert auch, die um den Kleinen herumstehen. Ein Fehler, wie ich heute finde, denn ich hatte das Gefühl, dass dieser kleine Junge, was immer passiert sein mag, am dringendsten des Halts bedurfte, des Gehalten-Werdens, der Stille mit einem anderem. Ihn nur zu halten hätte gereicht, oder er hätte es mich wissen lassen.

Ich habe es nicht getan, und ich bin nicht stolz darauf. Aber ich war überfordert und das muss ich mir zugestehen. Also stieg ich in den Zug und fuhr weg von diesem armen Menschen, der so dringend einer menschlichen Geste beduft hätte, weg in mein Hotel…

Das ist Indien, eine Seite von Indien. Indien ist nicht jeden Tag so. Aber es gibt Dir die Gelegenheit, jeden Tag, die Grenzen Deiner Seele kennen zu lernen, den Grad Deiner eigenen Mitmenschlichkeit, und vor allem Deiner Ängste. Das ist, was Indien so besonders macht. Und das ist, was Indien-Liebhaber von Indien-Hassern trennt: Kannst Du, willst Du Dich darauf einlassen?

Wenn nicht, bist Du hier ganz schnell weg, dann wird es zu anstrengend.

Ich finde Indien großartig: Weil es nicht in unser westliches, auf Forderungen basierenden ‘Pampers‘-Konzept passt, weil es Möglichkeiten eröffnet, sich selbst zu identifizieren, mit einem Leben ohne Sozialversicherung, ohne Krankenversicherung. Das macht Angst, aber regt zum Nachdenken an. Und weil es zeigt, dass auch das geht: Menschen, der Mensch hält viel mehr aus, als wir uns so vorstellen. Das ist das, was Indien mir jeden Tag vermittelt: Das Leben ist so unendlich viel größer, stärker, als Du Dir vorstellst, Du kleine naive Julia, und nichts daran ist persönlich. Du lebst und leidest? Gut so, geht einer Milliarde Menschen genauso! Und die sind sogar in der Lage zu lachen, wirklich offenen Herzens zu lachen, obwohl sie nicht wissen, was sie abends essen sollen. Großartige Lehrer.

Vielleicht ist es das, was ich an Indien so mag. Indien GEWÖHNT EINEM SEIN SELBSTMITLEID AB und zwar ganz schnell. Und es macht Dich dankbar. Und von einem völlig ego-zentrierten Fokus richtet sich die Aufmerksamkeit endlich, ENDLICH auf andere und ganz natürlich stellt man sich die Frage ein: Wie kann ich mich nützlich machen? Wie kann ICH helfen, wenn auch im Kleinen?

Indien öffnet einen, wenn man es zulässt, für das Leiden anderer und damit gleichzeitig für das Leid in Dir, und, zumindest empfinde ich das so, daraus kann etwas ganz Großartiges wachsen: Liebe.

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6 Responses to “Just a thought…(Update)”

  1. Daniela says:

    Schön beschrieben. Das geht aber m.E. nur Leuten so, die von Außerhalb kommen und nicht in Indien aufgewachsen sind. Wer das jeden Tag sieht, der sieht es nicht mehr. Und wenn man dann einmal gemerkt hat, dass man gar nichts ändern kann, dann sieht man es auch nicht mehr. Es macht keinen Unterschied.

  2. jules says:

    Ich gebe Dir insofern Recht, als es für die Betroffenen zunächst keinen Unterschied macht. Zumindest wenn aus diesem Mitgefühl keine Taten folgen.

    Aber: Wenn sich diese Gleichgültigkeit NICHT einstellt, dann ändert das für mich eine Menge, weil ich Liebe empfinde und eben nicht Gleichgültigkeit oder sogar Abneigung. Und wenn das Mitgefühl anfängt, meine Handlungen (und damit meine ich nicht die obligatorische Gabe einiger Rupien) zu beeinflussen, dann passiert auch etwas für die Anderen: Hätte ich den Jungen festgehalten, hätte ich ihn unter Umständen ins Krankenhaus gebracht, wäre das doch für das Kind ein großer Unterschied gewesen, oder?

    Natürlich machst Du mit einem Knochen nicht alle hungrigen Straßenköter satt. Für den Hund aber, der das Glück hat, Deinen Knochen und ein paar Streicheleinheiten abzubekommen, macht es einen großen Unterschied. Finde ich.

  3. Daniela says:

    Das stimmt schon, und wir versuchen alle hin und wieder, etwas Gute zu tun. Aber das reicht nicht, und es macht wirklich keinen Unterschied. Für jeden Knochen, den du hinwirfst, für jeden Hund also, gibt es gleich zehn neue. Um wirkliche Veränderungen zu bewirken, muss man sich dem Problem sein Leben lang widmen, und das braucht viel, viel Stärke.
    Sonst fühlt man sich immer nur selbst gut. Ich teile auch an Arme aus und füttere auch die Hunde, aber ich bewirke damit nichts. Außer ein sehr trügerisches Gefühl von “Ich tu meinen Teil”, aber das ist nur Augenwischerei. In Wahrheit aber behandel ich nur Symptome jedes Mal, wenn ich meine alten Sachen an Arme abtrete, die unter der Brücke sitzen. Wirkliche Veränderungen bringe ich nicht hervor.

  4. jules says:

    Ich finde Deinen Anspruch zu hoch! Freu Dich doch über die Male, wo Du helfen konntest! Und damit meine ich nicht so eine selbstzufriedene Freude, so ein “ich klopf mir jetzt auf die Schulter, hab ich wieder gut gemacht”-Ding.

    Natürlich behandelt man nur Symptome, aber für das jeweilige “Symptom” macht es einen Unterschied, ob es heute hungrig ins Bett geht, oder nicht. Wichtig ist, meiner Ansicht nach, dass diese Menschen, diese Tiere JETZT da sind und hungrig sind und/oder arm. Und ich habe die Gelegenheit, einigen von ihnen JETZT zu helfen.

    Natürlich ändert das nichts für die breite Masse, das hat nicht mal Mutter Theresa geschafft. Aber für die Betroffenen, die in der Obhut ihres Sterbeheims betreut und im Bett sterben dürfen, macht es einen Riesenunterschied zum Sterben im Rinnstein.

    Und um wirkliche Veränderungen zu bewirken müssten ganz andere Maßnahmen her, wie Geburtenkontrolle bei Mensch und Tier usw. Und eine Vision, wie es mit diesem Subkontinent weitergehen kann/sollte. Und dafür müsste man in die Politik gehen, pfui Teufel.

    Anyway, das ist letztlich eine sehr persönliche Entscheidung, die nur jeder für sich selbst treffen kann. Aber es lässt sich hervorragend darüber diskutieren 😉

  5. Andreas says:

    Wäre es damit getan, das Kind in den Arm zu nehmen oder ins Krankenhaus zu bringen? Welche Krankheiten kannst Du Dir dabei einhandeln? Wer zahlt dann die Rechnung? Wer trägt die weitere Verantwortung? Vielleicht rettest Du das Kind vor dem Tode. Dann hast Du die Verantwortung für dieses Kind, wie ein altes japanisches Sprichwort geht. Du machst den ersten Schritt und bist dann irgendwie gezwungen weitere Schritte zu machen. Du verlässt Deine sichere Burg und begibst Dich in einen vielleicht bodenlosen Sumpf. Bist Du bereit, selbst zu versumpfen? Oder bist Du nur bereit zu helfen, wenn sicher ist, dass Dich immer jemand auffängt, immer ein Sicherheitsnetz unter dem Seil ist?

    Ist es so, dass das Kind Deine Nächstenliebe weckte oder (so deutet Deine Schreibweise an) ist es eher das Gruslig-Schöne, das Dich faszinierte? Es fasziniert Dich, weil Du nicht auf demselben Niveau bist wie das Kind. Eben doch nur ein Zuschauer!?

    Anyway, das Kind hat in Dir seine Spuren hinterlassen. Vielleicht war es das, was die Götter beabsichtigten. Du hast gehandelt. Hast den Ball durch Deinen Bericht weitergespielt. Vielleicht findet sich ein anderer, der ihn aufgreift und handelt. Oder Du überlegst es Dir nochmal und handelst nachhaltig. Überwindest Deine Abneigung (z.B. Politik, NGOs) davor.

    In dem Buch Anand Nagar (City of Joy) lebt der Prister in den Slums von Kalkutta, um den Ärmsten zu helfen. Jedoch sind die Schwierigkeiten dort im Buch bei weitem untertrieben, denke ich.

    Wenn es Deine Berufung ist, dann wird dieses Ereignis nicht alleine stehen bleiben. Auf das leise Stöhnen folgt ein gedämpfter Schrei und wenn der nicht gehört wird, folgt ein Paukenschlag: wenn es Dir vorgesehen ist.
    Wenn Du Dich dann immer noch weigerst, hast Du damit evtl. im nächsten Leben ein Problem.

    (P.S.:So ist es halt, wenn man anfängt nachzudenken)

    LG
    Andreas

  6. Daniela says:

    Hm, wohl wahr. Aber, und das ist ja das traurige, wenn wir uns alle nur mit dieser Pseudohilfe von unserer Verantwortung verabschieden, bleibt am Ende keiner übrig, der wirklich aufräumt. Das beschreibt ja im Prinzip die momentane Situation, in der es sehr wenige Leute gibt, die wirklich hands-on dabei sind.