verpasste Flugzeuge und andere Katastrophen…

Bis Freitag Abend sah alles gut aus: Wir setzten meine Mutter um 20.00 Uhr in unseren Wagen, der Fahrer Dilip wurde instruiert, dass er spätestens bis 23.00 Uhr am Mumbai International Airport zu seien habe, dass meine Mutter um 0.50 Uhr mit NWA fliegen würde und winkten zum Abschied. Dann tranken wir einen doppelten Whisky und gingen um 11.00 Uhr ins Bett. Unsere Ruhe währte nicht lang: Um 1.30 Uhr rief Klaas aus Deutschland an: Meine Mutter hätte den Flieger verpasst und säße jetzt in einem obskuren Hotel in Bombay, in das sie irgendein Fahrer vom Grand Hyatt verfrachtet habe, nachdem sie gesagt hatte, dass ihr das Grand Hyatt mit 400 Dollar die Nacht doch vielleicht etwas zu teuer sei.

Dazu muss man wissen, dass meine Mutter eine agile, zarte Person um die Siebzig ist, mit einem ungeheuer starken Willen, und dass dieser starke Wille beschlossen hatte, doch auf die Mitnahme eines Handys auf dieser Reise zu verzichten. Na, klasse. Zudem hatte ich ihr noch ein Bündel großer Rupien-Scheine mitgeben wollen, aber auch das hatte sie kategorisch abgelehnt. Da saß sie also: In irgendeiner Absteige, ohne Geld, Handy, ohne Wasser und andere Genussmittel.

Glücklicherweise hatte Klaas mir die Nummer des Hotels mitgeteilt und so rief ich gegen zwei Uhr nachts mit roten Ohren an: Schließlich hatten wir die Anfahrtszeit so knapp kalkuliert und ich fühlte mich für ihr Elend verantwortlich. Allerdings war diese Rechnung bei uns bisher immer aufgegangen und ich hatte einfach vermeiden wollen, dass sie lange auf dem bislang eher schäbigen Umbau-Flughafen herumhängen muss.

Dann legte sie los: Dilip hätte auf dem Pune-Mumbai Highway ziemlich gebummelt, und sie sei erst um 23.20 Uhr bei der Sicherheitskontrolle gewesen und hätte sich dann um 23.50 am Check-In Schalter von Northwest-Airlines präsentiert. Der Mann am Schalter hätte ihr lächelnd mitgeteilt, dass der Check-in leider schon geschlossen sei, sie käme nicht mehr mit. Allerdings würde er VERSUCHEN, sie auf die morgige Maschine zu buchen, sie solle sich doch bitte am Samstag Abend um 21.00 Uhr wieder einfinden. Bis dahin, Adieu, mein Schatz!

Diese Information musste ich erst einmal verdauen: Check-In EINE Stunde vor Abflug geschlossen? Wo gibt es denn so etwas? Wer kann damit rechnen? Warum bekommt man diese Information nicht bei der Ticketbuchung? Woher zum Teufel soll man das wissen?

Dann erinnerte ich mich an meinen Flug mit NWA, und deren paranoide Sicherheitskontrollen: Zuerst das außerordentlich intelligente Verhör (‘Haben sie irgendwelche Bomben im Koffer?‘ und ‘Planen sie einen terroristischen Akt?‘) und die diversen Male der Körper- und Taschenkontrolle, bei denen sie einem am liebsten in die Unterhose geguckt hätten. Klar Mann, hätt ich wissen müssen, amerikanische Airline, mea culpa.

Mist, ich schlief genauso wenig und schlecht wie meine Mutter in ihrer Absteige. Um sieben Uhr morgens telefonierten wir nochmal und verabredeten als Treffpunkt das Hyatt Regency in der Nähe des International Airports. Dann organisierte ich Fahrer und Auto und ab gings nach Mumbai – dahin, das ruhige Wochenende.

Nach einem kurzen Snack im Hotel machten wir uns dann auf die Suche nach einem Büro der NWA am Flughafen und fanden ein Zimmerchen in einem Seitengelass des Hauptgebäudes, zwischen Spanplattenbergen, herausgerissenem Büromobiliar, inmitten von kreischenden Kreissägen und wildem Gehämmer. Die Frau am Counter lächelte salomonisch und schob mir einen Zettel mit den Service-Nummern von NWA zu, sie wäre nur für Baggage-Handling zuständig und abgesehen davon sei es zu laut, um irgendetwas für uns zu tun. Damit hatte sie recht.

Zurück ins Hyatt. Dort ins Business-Center, die Service-Nummern probiert: Die ersten beiden hängten mich ab (access denied), die dritte war die Service-Nummer von Air-France, bei der vierten hatte ich Glück: Es war tatsächlich NWA. Ich erklärte, dramatisierte (My mother needs medical assistance, she has to go back urgently…), aber es half nichts: Bis zum siebten Oktober seien alle Maschinen ausgebucht und außerdem würde es sich bei dem Ticket meiner Mutter um ein non-changeable, non-refundable Ticket handeln und er könne bei dieser Ticket-Kategorie nichts, NICHTS, für mich tun. Mit Pech müssten wir ein neues Ticket kaufen. Die einzige Chance sei, es abends wieder am Schalter zu versuchen.

Wir hatten sehr gute Laune an diesem Nachmittag. Und warteten – sieben Stunden können lang werden, wenn man wartet, selbst im Hyatt. Schließlich, um 20.00 Uhr zurück zum Flughafen. Meine Mutter musste alleine rein: Das Wachpersonal mit Gewehren und Colts in martialischen Militäruniformen war unerbittlich. U. und ich warteten hundemüde draussen. Dann, um 21.00 Uhr, machte der Schalter auf: Man sah meine Mutter in Verhandlungen mit dem Check-In Personal, Papiere wurden gereicht, sortiert, weitergegeben, Computer konsultiert, nichts: Nach einer Stunde kam meine Mutter zum Ausgang, um mir kurz Bescheid zu geben: Die Maschine sei tatsächlich bis auf den letzten Platz ausgebucht, sie müsse auf einen No-Show warten. Unsere Hoffnung sank. Andererseits gehen in so eine 747 um die 400 Passagiere – da kann es doch sein, dass einer nicht auftaucht?

Wir richteten uns auf der Bordsteinkante gegenüber von Departure-Gate D häuslich ein: Zum Glück gab es einen Kiosk in der Nähe, ich kaufte Wasser und Zigaretten, und ich sah mich nach blauen Zeltplanen um, das macht man hier so, wenn man ein Haus bauen möchte. Irgendwann erhob ich mich von meinen Bordstein und sah noch einmal nach ihr: tatsächlich, sie stand jetzt in der normalen Check-In Schlange, UND IHR KOFFER STAND AUF DEM ROLLBAND ZUM ABTRANSPORT. Wow!

Dann ging für uns alles ganz schnell: Irgendwann kam sie zum Ausgang getippelt, rief mir zu, dass sie mitkäme, allerdings in Amsterdam noch lange warten müsse, das solle ich Klaas bitte ausrichten und war weg. Halleluja, großer Seufzer der Erleichterung!

Das letzte Mal, als ich irgendetwas von ihr hörte, war sie in Amsterdam auf dem Flughafen und murmelte etwas davon, dass sie erst mit der späten Abendmaschine weiter käme, also noch mal locker zwölf Stunden warten müsste…

Alles, was ich sagen kann ist: Es tut mir leid. Und Ma, falls Du das irgendwann liest: Ich weiss, dass ich jetzt sämtliche Credits als große Reiseorganisatorin verspielt habe. Aber ich verspreche Dir: Das nächste Mal fliegst Du bis Pune. Business, zur Entschädigung. Herrgott, wie kann man nur so blöd sein!

Tags: , , , ,

7 Responses to “verpasste Flugzeuge und andere Katastrophen…”

  1. Daniela says:

    Oje. Ohne Salz in die Wunde reiben zu wollen: drei Stunden von Pune nach Mumbai am Freitag Abend? Schäm dich.

    Ich hoffe, deine Mutter ist dann doch noch gut angekommen.

  2. anja says:

    oje sag auch ich und keine schimpfe sonst….passiert halt auch den ausgebufftesten. aber wenns dann auch noch indien ist….deine arme mutti…hats sies mit fassung getragen?
    anja

  3. jules says:

    Pöbelt ruhig! Ich weiß, ich weiß, es war ein schrecklicher Fehler!

    Oh ja, sie war klasse… Sie spricht sogar noch mit mir!

    Ist jetzt endlich zu Hause. Aber, aber….ich verneige mein Haupt in Demut und Scham!

  4. Daniela says:

    “Sie spricht sogar noch mit mir!”

    LOL!

  5. Mango says:

    Shit happens! Und die Betroffenen dürfen zukünftig am lautesten lachen! Ich erinnere mich an eine Familie, die zum Flughafen fuhr, nur um fest zu stellen, dass der Flug am folgenden Tag sein würde…. . Es war meine Familie. Reumütig kehrten wir nach Hause zurück, um die abgegebenen Lebensmittel bei meinen Nachbarn wieder ein zu sammeln. Am Reisetag bekam ich dann die erste und bisher letzte Migräne meines Lebens, die mich für 3 Tage lahm legte. Hätten wir den Flug um einen Tag verpasst, wäre ich vermutlich theatralisch umgekippt. Peng. Ja, ja, wenn einer eine Reise tut….
    Scham geneigten Kopf jetzt also wieder hoch Julia! Und schön schmunzeln, wer weiß was die anderen alles so im Sack stecken haben?!

    Mango

  6. jules says:

    Danke, Mango, für Deine tröstenden Worte! Und: Natürlich hast Du recht!

    Auf die letzten Migränen dieser Welt – Cheers!

    J.

  7. Andreas says:

    Unbekannte Wirkung kleiner Ereignisse (kein Wort zum Sonntag)

    Manchmal tritt eine Handlungsabfolge nicht so ein wie geplant. Manchmal gibt es dadurch Unannehmlichkeiten. Manchmal macht man sich dann Vorwürfe.

    Wir vergessen heute oft, in unserer technisierten Umwelt, dass wir in einem Flechtwerk von Einflüssen stehen.
    Wir nehmen die Wolken von Bakterien nicht war, die um uns herumwirbeln, die wir von uns geben, einatmen und ausspeien, bemerken sie nicht, weil sie zu klein sind um sie zu sehen.

    So nehmen wir auch nicht die Einflüsse geringer primärer Wirkung war, die jeder gegenüber jedem ausübt. Dafür sind unsere Sinne nicht ausgelegt. Nur wenn was Beachtliches passiert….

    Es ist nicht immer so, dass auf eine kleine Ursache eine große Wirkung folgt. Wenn ich einer fliegenden Ratte (Taube) ausweiche und dadurch (zufällig) jemandem im Weg stehe und dieser jemand beim um mich Herumlaufen auf einer Bananenschale aus-rutscht und das Genick bricht, ist das dann die Schuld der Taube, oder meine, oder die desjenigen, der justament ein paar Brotkrümel verstreute, was die Taube veranlasste, darauf hastig, mich knapp verfehlend herunterzustürzen. Da habe ich schnell einen Schuldigen: den Krümelstreuer.!
    Der ist aber ein kleines Mädchen, das versunkenen Blickes den armen hungernden Vö-geln von ihrer Bretzel abgibt. Sie ist sich der Wirkung ihrer Handlungen gar nicht be-wußt. Soll ich sie schuldig sprechen?
    Jetzt können wir das o.a. Akteur-Zeitdiagramm beliebig variieren und kommen zu belie-big geringen Wirkungen und Auswirkungen, zu Parametergruppierungen in Raum und Zeit, die unseren Kopf schwirren lassen. Wirkung…Ursache….Wirkung…Ursache, was ist was?

    Dass Deine Mutter das Flugzeug verpasste, für diese Tatsache ist nicht eine Ursache verifizierbar. Diese liegt irgendwo in Raum und Zeit, liegt im Plan der Götter oder unter-liegt chaotischen Zufallsgesetzen.

    Welche Wirkung Deine Mutter auf ihre Umwelt hatte, welche umwälzenden Konsequen-zen dies haben mag, wissen wir nicht: wen hat sie im Flugzeug getroffen, den sie im geplanten Flug nicht treffen konnte, welche (unbedeutenden?) Worte hat sie mit ihm gewechselt? Welche Schicksale werden dadurch neu geordnet?

    Wir sind alle Spielbälle großer und kleiner Kräfte, das sollten wir uns immer bewusst sein. Wir versuchen unser Bestes, aber wenn etwas anders geschieht als geplant, beladen wir uns besser nicht mit Selbstbeschuldigungen.

    Das Bewusstsein über unsere Stellung im kosmischen Geschehen sollte uns Ruhe geben, Ruhe, wie sie uns die Brüder und Schwestern in Gott oft im täglichen Leben de-monstrieren.

    Ich bin sicher, du hast den Vorfall mit Deiner Mutter inzwischen fast schon wieder vergessen. Wenn ja, dann vergiss meinen Rat nicht für die vielen Dinge, die in Deinem Leben noch auf Dich zukommen.

    LG
    Andreas