You don´t die because of fear

Mir ist mulmig, denn es wird konkret. Heißer Wind, der den Straßenstaub tanzen lässt, rotwehende Saris, Händler, die alle erdenklichen Waren auf Plastikplanen entlang verstaubter Straßenränder feilbieten, dreckige, magere, kranke Straßenköter, die einander in der Meute jagen, alles verschlingende Menschenmassen in Autorikshas, auf Fahrrädern, mit Handkarren, in Autos, Bussen und Lastern – alle drängelnd, alle pressend, alle auf ein Ziel hinstrebend, dorthin, wo auch ich hin will.

Das sind die klischeehaften Bilder von Pune, die mir verzerrt durch den Kopf jagen, wenn ich nachts nicht schlafen kann, aber sie entsprechen dem, was wir auf unserer Kennenlern-Reise erlebt haben. Bange Gedanken: Was ist, wenn ich es dort nicht aushalte, wenn mich Lärm, Hitze, Gerüche, Menschenmassen fertig machen und ich nichts als weg will?

Aber es gibt kein Zurück: Vor ein paar Wochen hat U. den Arbeitsvertrag unterschrieben. Unsere Zukunft heißt Indien.

Die letzten zwei Monate waren trotz erstaunlich guter Logistik – dies ist der erste interkontinentale Umzug, den wir machen – ein Rennen gegen die Zeit mit Wohnungskündigung, Autoverkauf, Vertragsverhandlungen, weiteren Kündigungen, Adressmitteilungen, letzten Rechnungen, Packlisten und Tierarztbesuchen, denn Assaichen wurde zusehends kränker.

Zwei Wochen später ist unser Leben verpackt – eineinhalb Tage brauchen vier Kerle, um unser gesamtes Hab und Gut systematisch stoßfest in gigantische Papprollen, Luftpolsterfolie und Kisten zu verpacken. Vorher haben wir ausgemistet, dennoch bleiben 222 Colli in allen erdenklichen Größen, die an diesem sonnigen Tag in Braunschweig in einem orangen Hapag-Lloyd-Container verschwinden – werden wir sie wieder sehen?

Die letzte Nacht verbringen wir auf Luftmatratzen in unserer leer geräumten Wohnung, die so lange unser Zuhause war. Ich setze mich noch einmal auf die Treppenstufen vor unserem Haus, um Abschied zu nehmen von Kopfsteingasse und Fachwerkhäusern und katholischer Kirche, die uns so viele sonntägliche Hochzeiten gebracht hat, die wir feixend aus unserem Wohnzimmerfenster beobachtet haben. Das ist jetzt vorbei, genauso wie der kleine Zahnarzt von nebenan mit Sheila, seiner durchgestylten Frau, der ältere Herr mit seinem Schleicher-Colli, der so gerne Falschparker anzeigte und auch Jogginghosen-Zuhälter, der mit seinem Dalmatiner in unserer Straße spazierenging – sie alle sind passé, Vergangenheit.

Aber das sind nicht die Gedanken, die ich, völlig zerschunden von Wochen der Umzugsplackerei, in dem Moment denke. Immer, wenn ich in den letzten Tagen Zeit hatte, so um 23.00 Uhr, wenn keine Energie mehr aus dem Tag zu holen war, hatte ich nur noch einen Gedanken: „Wahnsinn!“ Wahnsinn, was man in zwei Monaten alles bewegen kann, was alles zu tun ist, wie schnell ein Leben sich verändern kann. Die Minuten Abschied auf der Treppe sind auch ein Abschied von den Listen, die mich Tag und Nacht begleitet haben und von dem Feuerball, den ich im Bauch habe – groß waren Anspannung und Anstrengung.

Am nächsten Abend finden wir uns in einem Frankfurter Flughafen-Hotel wieder und ich denke nur noch daran, wie Assai den Flug überstehen wird. Mir ist übel, als ich mit dem Kleinen auf einem Industriegelände nahe der Autobahn einen kurzen Abendgang mache und auch an Assaichen sind die letzten Wochen Packen und Vorbereiten nicht spurlos vorübergegangen: Mit hängendem Kopf schlurft er neben mir her und ich erkenne den einst so stolzen Ridgeback, der mit wehenden Ohren über die Felder jagte, kaum wieder. Seit kurzem weiß ich, dass er auf die Dauer nicht zu retten ist, aber im Moment beschäftigt mich nur eine Frage: Wird er den Flug heil überstehen?

Lange haben wir mit dem Tierarzt eine Strategie besprochen und uns schließlich dafür entschieden, ihm erst kurz vor Abflug nur eine statt der benötigten zwei Beruhigungstabletten zu geben – wir müssen Rücksicht darauf nehmen, dass er einen großen Tumor in seinem rechten Lungenflügel hat und gerade erst eine schlimme Darminfektion überstanden hat, inklusive zwei Tagen am Tropf.

In dieser Nacht ist mein Nervenkostüm völlig im Eimer und an Schlaf nicht zu denken – zu sehr haste ich innerlich in dem Stechschritt-Tempo der letzten zwei Monate weiter, zu sehr denke ich an Assai und an die Gepäckberge, die wir morgen allein zu bewältigen haben. Zu sehr kämpfe ich mit der Panik, die mich immer wieder überfällt.

Aber am nächsten Morgen geht alles erstaunlich schnell: Nach unsentimentalen 15 Minuten sind wir um unseren Hund und knapp 2000 Euro für Übergepäck ärmer und haben lediglich nur noch fünf (!) Handgepäckstücke die langen Gänge zum Gate zu schleppen.

Wir landen nachts um 1.00 Uhr auf dem Flughafen Bombay. Sofort nehmen uns clevere Kulis mit strahlendem Lächeln in Empfang und versprechen uns, auf dem Flugfeld nach Assaichens riesiger Flugbox zu suchen. Tatsächlich – nur knapp zehn Minuten später torkelt Assai mit blutunterlaufenen Augen aus der Transportkiste – er hat es überstanden!

Für heute ist Schluss: Zwanzig Minuten später sind wir in einem der teueren und sehr schönen Mariott-Appartments am See angekommen und mir fällt ein Stein vom Herzen, als Assai gierig trinkt und frisst. Assai wird leben!

Nur vier Stunden später klingelt der Wecker, alle sind zerschlagen, aber es hilft nichts: Aufstehen, kurzer Spaziergang im palmengesäumten Hotelpark, Frühstück und dann ab nach Pune – denken wir. Doch daraus wird nichts. Der bestellte Fahrer ist zwar pünktlich da, doch Drücken, Quetschen, letzte Lücken ausfüllen und indisches Am-Kopf-Kratzen hilft nichts: Unser Gepäck – inklusive dem Flugbox-Monster – gehen nicht einmal in den bestellten Großraumwagen hinein. Ein zweites Auto muss her. Drei Stunden und etliche Telefonate mit Avis später können wir endlich los: Im Auto presst sich Assai mit letzter Kraft schutzsuchend an meine Seite, dann holpern wir drei in einem PKW in sengender Nachmittagshitze durch die Slums von Bombay und über die Autobahn, unser Gepäck im großen Wagen hinterher.

Vier Stunden später öffnen wir dann die Tür unseres weißen, kühlen Appartments in Pune – endlich sind wir angekommen.

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