Ein weisser, reicher Geldautomat

Es ist ein ständiger Kampf: Michael und sein Lederfussball, John und sein dreisprachiges Schulbuch, der Rikshafahrer Romans und sein vom Monsunregen leckes Dach, die Fruchtverkäuferin vom Strand, die mir unter Tränen erklärt, dass sie seit zehn Tagen nichts verkauft hat, alleinerziehende Mutter von zwei Töchtern ist und nichts für ihre Familie zu essen kaufen kann, Theresa aus Karnataka, die einen Bruchbuden-Shop für 75.000 Rupien pro Jahr in Varkala gemietet hat und dort T-Shirts, Tücher, Taschen vertreibt etcetera, etcetera – die Liste von Leuten, die an mein gutes Herz appellieren, könnte länger nicht sein. Nahezu jede Begegnung in Indien, die in meinen Augen zunächst ganz unschuldig beginnt, endet letztlich in einer Diskussion um Geld, mein Geld. Geld, was ich habe, und das mein Gegenüber von mir haben möchte. Die Gründe dafür – siehe oben – sind so vielfältig (und erlogen?), wie die Menschen, mit denen ich spreche.

Sie erwischen Dich überall: Selbst wenn Du auf einem einsamen Felsen am Meer sitzt und sinnend aufs Wasser starrst, und wirklich nichts willst, nur Deine Ruhe, dauert es keine zwei Minuten und Du hast jemand Neuen an Deiner Seite, vorwiegend jung und männlich und des Englischen mächtig, der Dir ungefragt und rücksichtslos SEINE Geschichte aufs Auge drückt. Auch wenn Du signalisierst, dass Schweigen das Verhalten der Wahl wäre – keine Chance, denn die Leute packen Dich bei Deiner unangebrachten Höflichkeit. Die reichen Inder sind da straighter: Bei Ihnen hätte keine dieser Heulsusen eine Chance, käme nicht mal bis zum ersten Absatz seiner, ihrer Leidensgeschichte.

Bei mir ist das anders: Bislang beginnen bei jeder Begegnung mitfühlendes Herz und Misstrauen miteinander zu ringen und das ist die sekundenlange Lücke der Leere, des Nachdenkens, des NICHT-NEIN-SAGENS, in die mein opportunistisches Gegenüber eingrätscht, um zu erzählen. Wie lange werde ich noch nachdenken, wie lange noch zuhören?

Wenn ich beginne, mich in die Lage dessen zu versetzen, der mir gegenüber sitzt, läuft in mir etwa folgender, innerer Dialog ab und Michael, John und Theresa haben schon halbwegs gewonnen: ‘Könnte es mir nicht genauso gehen? Was würde ich tun, wenn es mir so ginge? Vermutlich dasselbe. Aber kann der Typ nicht arbeiten, wie alle anderen auch, wie ich, wie jedermann? Das ist doch alles gelogen, der will doch nur mein Geld. Mein Gott, wie ich diese Mitleidsmasche hasse. Aber vielleicht geht es der Familie ja wirklich so schlecht! Wie kann ich denn da helfen? Wieder nur mit Geld? Warum geht es nur so vielen Menschen beschissen auf dieser Welt?‘ etc., etc.

Je länger ich zuhöre, desto geneigter bin ich in der Regel, etwas springen zu lassen, vielleicht nicht sofort, aber steter Tropfen höhlt den Stein. Ich bin ja auch die kommenden Tage noch hier und das wissen die meisten. Also gibt es kein Entkommen. YOU MUST FACE IT, YOUR OWN ‘NO!‘. Sag einem armen Schwein ins Gesicht, dass Du ihm nicht helfen kannst, nicht helfen WILLST, du reiches, hartherziges Kapitalistenschwein, dann bist Du frei in diesem Land der armen Schweine, die sich so hartnäckig an Dir zu reiben, denn sie haben nichts zu verlieren.

So langsam entsteht bei mir der Eindruck, dass es genau dies ist, das die meisten von ihnen bewusst ausnutzen, dass es eine intuitiv erspürte und gut funktionierende Masche ist, derer sich die Armen dieser Welt bedienen: Denn das schwere, schlechte Kollektivgewissen als Angehöriger einer weissen, reichen Rasse ist auf die Dauer schlecht zu ertragen im Angesicht von Elend. Und dann kommt eine gut platzierte Elendsgeschichte und schon werde ich weich. Ach, Julia.

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3 Responses to “Ein weisser, reicher Geldautomat”

  1. Kerstin1301 says:

    Mach Dir nichts draus Julia, damit bist Du nicht allein, mir geht es meistens genauso. Es sei denn, der Gegenueber ist gerade sowas von abstossend, dass das “Engelchen” in mir nicht gewinnen kann. Gott sei Dank ist meistens mein Freund dabei und der laesst meine “Engelchen”-Tour schlicht und einfach nicht zu. Darueber bin ich froh, denn somit habe nicht ich die Entscheidung getroffen;)

    LG
    Kerstin

  2. Falk says:

    Hallo Julia,

    hast Du schon Micahel getroffen? Kerala am Strand. Er spricht gut Englisch, hat mit seinen Kumpels eine Fußballmanschaft und keinen Ball. Es fehlen ihnen noch hundert INR. Ich hab ihm 50 gegeben. War ein Fehler. Passiert mir ganz selten. OK? Aber irgendwie war er ein netter Kerl. Nette Fotos habe ich an dem Morgen auch noch gemacht. Manchmal wir man einfach schwach.

    Liebe Grüße

    Falk

  3. jules says:

    Ach nee, auch bei Dir die Story von den fehlenden 100 Rupien, der Fußballmannschaft, dem Lederfußball?

    Mann, ich bin ja so naiv!

    Werd gleich mal was drüber posten…;)

    Ganz liebe Grüße zurück

    Julia