It must be love…

Samtweich streichelte heute morgen um vier die linde Nachtluft Indiens meine übermüdeten Glieder, als ich, verschwitzt und übernächtigt, voller Freude übers Rollfeld lief. Ich war drauf und dran gleich dort meiner Freude Ausdruck zu verleihen, auf die Knie zu fallen und den geheiligten indischen Boden zu küssen, konnte mich aber gerade noch zurückhalten und verschob das Ritual auf später.

Ich konnte nicht anders, als breit zu grinsen, als mir die junge Krankenschwester in einer pro-forma-Prozedur das Fieberthermometer (?) an den Hals hielt – 98° Fahrenheit, no worries –  und mich der bärtige Arzt nach irgendwelchen Schweinegrippen-ähnlichen Unpässlichkeiten fragte, die ich lächelnd verneinte: “Namaskar!” schmetterte ich ihm stattdessen gutgelaunt und Uhrzeit-unangemessen entgegen und preschte nach dem üblichen Stempelritual der Immigration entgegen. Dort fehlte mein spezieller Freund vom letzten Mal, Mr. Wichtigtuer, der mich ohne mein original FRO-Papier nicht einreisen lassen wollte. Stattdessen saß dort ein junger, durchaus netter Beamter, der wohl auch ohne Bakshish leben kann: Er jedenfalls winkte mich nach kurzer Prüfung der Papiere durch, ohne das sensible Stück überhaupt sehen zu wollen. Indien hat mich wieder und ich bin so, so froh.

Es ist schon merkwürdig, was die Zeit so mit einem anstellt: Nur eine Woche war ich in Deutschland und diese Woche war ein eindeutiger, wenn auch subjektiver Beweis von der Relativität der Zeit: Noch nie ist mir eine Woche trotz gut gefüllten Terminkalenders so lang vorgekommen, noch nie habe ich mich so einsam gefühlt, selten habe ich so ein Heimweh gehabt, wie in dieser einen Woche, die ich nicht in Indien war. Ich kann gar nicht genau sagen, WAS schiefgelaufen ist, in Deutschland, denn die Menschen waren nett und hilfsbereit und pünktlich, das Land war, wie es immer ist, sauber und aufgeräumt und wohlorganisiert und still, ja ach so still und kühl, klar und abgas- und ereignislos. Abends liefen Jauch und Gottschalk im Fernsehen, aber auch gute Reportagen auf Arte und 3Sat, und alle amüsierten sich, wie es sich für anständige Deutsche geziemt: Unaufgeregt und vernünftig bei einem Glas Wein am Abend.

Ich starb. Abend für Abend, jeden dieser acht langen, verregneten und kalten Abende lang, an denen wir Freunde trafen, die wenig von meiner Verfassung wussten, und das war auch nicht nötig. Denn was hatten sie damit zu tun? Nichts.

Ich war wieder in demselben Loch, in das ich vor schätzungsweise vor zwanzig (!) Jahren gefallen war, als ich aus Australien zurückkehrte: 5000, oder 10000 australische Überlandstraßen-Kilometer im Gepäck, das aus einem kleinen Jack-Wolfskin-Rucksack bestand, auch damals mochte ich schon Hundepfoten. Der Himmel war so weit, über Australien, und so eng über der Norddeutschen Tiefebene, Jägerzäune inbegriffen.

Damit das an dieser Stelle klar ist: Ich habe nichts gegen Deutschland, es ist ein gutes Land. Das, was ich fühle, hat sehr viel mit mir zu tun, und sehr wenig mit dem Land. Außerdem ändern sich Gefühle ständig, sind also nicht gerade das Optimum an kalkulierbarer Größe.

Aber als heute früh um 5.30 Uhr das leise Rufen des Muezzins durch die Moskito-Fenster unseres Schlafzimmers drang, die Baustellenhunde bellten und ich das erste Gezwitscher der Singvögel vernahm, war meine Welt wieder in Ordnung, ich kuschelte ich mich noch einmal in die Kissen und ließ los: Ich war zuhause, endlich wieder zuhause, und mein Herz sprang vor lauter Freude ob des Irrsinns des kommenden Tages, dem Hupen, den Abgasen, der sinnlosen Neugier der indischen Gaffer, der Bettler, der Streuner, der kleinen Tragetüten statt der großen Einkaufswagen, und ich betete, rein rhetorisch: “Lieber Gott, lass mich bitte, BITTE, für immer in Asien leben, so lang es eben dauert, mein Immer!”

Dann schlief ich ein. Zuhause.

Tags: , , ,

7 Responses to “It must be love…”

  1. jules says:

    Hi Anja,

    ich wusste, dass Du mich verstehst! 😉

    LG
    Julia

  2. Daniela says:

    Hallo Julia,

    ganz toll beschrieben! Es ist sehr viel wert, wenn man sich da wohlfühlt, wo man lebt. 🙂 Geht ja leider nicht jedem so, und du hast das Heimatgefühl sehr schön rübergebracht.

    LG
    Daniela

  3. Inge says:

    Hallo Julia,

    ich war heuer nach drei Jahren ‘Abstinenz’ wieder mal in good old Germany fuer fast fuenf Wochen. Nach meiner Rueckkehr nach Indien hat sich doch tatsaechlich ein breites, wohliges Heimatgrinsen auf meinem Gesicht ausgebreitet, als ich in der Rikscha sass und die unverfehlbaren indischen Gerueche wieder wahrgenommen habe!! Kann Dich also auch gut verstehen!!

    Liebe Gruesse aus Kovalam
    Inge

  4. teodoraa26 says:

    Hmm, ich habe ein Jahr gebraucht bis ich das Gefühl hatte wirklich in Kanada angekommen zu sein und nicht ständig auf dem Sprung nach irgendwoanders hin zu sein. In Indien glaube ich fast, dass ich länger brauchen würde.. zu sehr muss man sich anpassen und ein ganzes Regelwerk folgen. Da genieße ich die Freiheit in Kanada mit jedem sprechen zu können mit dem man Lust dazu hat, ständig Leute zu treffen, die tatsächlich gute Laune haben, anlächeln zu können wenn man will und ausser einem Lächeln nicht in Sorge sein zu müssen, sich unangebracht zu verhalten, anziehen zu können was Laune und Wetter hergeben… Vielleicht habe ich aber auch einfach noch nicht das Indien gefunden, das zu mir passt, ich ahne jedoch bereits, das es vermutlich nicht im Haus meiner Schwiegereltern zu finden sein wird.. =)

  5. sarangiji says:

    ich würde gerne in Deinen Schuhen stecken (wenn sie nicht zu eng sind) und dieses Indien-Zuhause-Gefühl miterleben.
    Aber dazu muss man wohl länger dort unten gelebt haben und so manche Klippe umschwommen und dann immer wieder gesund “gestrandet” sein.

    Gruß
    Andreas
    (ich hatte zwischendurch keinen Computer, der war plötzlich am gleichen Tag wie der meiner Frau hopps gegangen. Und ausserdem vergesse ich, regelmäßig in die feeds zu sehen.)

  6. Barbara Kemmerling says:

    Hallo Jules,

    vielen Dank für diesen Eintrag – ich habe gerade Sehnsuchtstraenen in den Augen und “meinen” Indien-Geruch in der Nase und das nur vom lesen.

    DANKE, DANKE, DANKE!

    Leider muss ich noch bis Maerz warten, bis ich Indien nach 4 (!!!!) Jahren wieder mal besuchen darf – aber ich habe jetzt schon Sehnsucht!

    Liebe Grueße, Barbara.